„Meine Mutter hat erstmal gesagt, studier doch BWL, dann bist du sicher.“
Kunst? Dafür gibt's ne App!
Zwischen ratternder Handymusik, Motorgeräuschen und dicht gedrängten Schüler*innen hallt ein lang gezogenes „Peeenis“ durch den Bus. Gefolgt von Kichern und Lachen. Vorbei an den vielen Baustellen Stuttgarts schlängelt sich die voll besetze Linie 44 auf den Killesberg. Mit jeder Kurve bietet sich dabei eine bessere Aussicht auf die Stadt, über der ein eisiger Schleier hängt. Endhaltestelle: Campus der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste (ABK). Stuttgart ist eine Stadt, die mit ihren Kunststiftungen und Vereinen für eine umfassende Kulturförderung bekannt ist: In der Landesstadt werden jährlich 34 Millionen Euro in Förderprogramme investiert. Im Jahr 2022 konnten damit über 600 Projekte und Einrichtungen unterstützt werden. Auch die ABK zeichnet sich durch ein einzigartiges Fächerspektrum aus. Als der fast leere Bus davor hält, wird das triste Grau des 70er-Jahre-Baus von der kraftlosen Wintersonne angestrahlt. Sie ist einer der wenigen Kunsthochschulen in Deutschland mit Universitätsstatus. Über 900 Studierende können hier in die freien und angewandten Künste wie Architektur, Design oder Kunst eintauchen.
Raum, eine Künstlerinnenpersönlichkeit zu entwickeln, bieten die 30 Ateliers der ABK. In einem erhellt Jessinas Lachen die kalte Winterluft „Meine Mutter hat erstmal gesagt, studier doch BWL, dann bist du sicher.“ Doch einen Bürojob wollte sie noch nie. Schon als kleines Kind hatte sie die Leidenschaft für die Malerei gepackt. Fasziniert von den alten Meister*innen der Kunstgeschichte verschlang sie damals stundenlang Bücher in der Bibliothek. Nach dem Abitur entschied sie sich für die Bildende Kunst. Nun teilt sie sich ihr Atelier mit drei anderen Mitstudierenden. Sie haben den Raum viergeteilt.
Wer der Mutter insgeheim Recht gibt, dem schießt jetzt vielleicht folgendes Vorurteil durch den Kopf: Ein brotloses Unterfangen, mit dem man später nicht genug verdienen kann. Die Kunststudentin räumt ein, dass da auch was dran ist. Ob es deswegen Momente des Zweifelns gebe? Wieder lacht die 23-Jährige: „Ständig.“ So wie Schriftsteller und Schriftstellerinnen ihre Schreibblockaden haben, hätten auch Künstler*innen Tiefpunkte in der eigenen Arbeit. Bei Jessina, die mit Zweitnahmen Doreen heißt, entstehen die meisten dieser Arbeiten im Atelier. Ein etwas in die Jahre gekommener Raum mit hohen Decken und einer großen Fensterfront. Der kühle Fliesenboden ist mit Farbflecken übersät. In jeder Ecke des Raumes stapeln sich Kunstprojekte, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
Die Kunststudentin steht in ihrem Bereich, der Ecke vor der großen Fensterfront. Durch die fleckigen Fenster kann man von hier aus auf den Grünabschnitt im Hinterhof blicken. Dort zieren vom Wetter gezeichnete Kunstprojekte die Wiese. Das Smartphone hält sie dabei in ihren mit silbernen Ringen besetzten Händen. Die neuen Kunstwerke müssen noch für ihre Instagram-Seite fotografiert werden. Es ist ein sonniger Wintertag und das Licht im Atelier steht perfekt.
„Vor Instagram musste man immer zur richtigen Zeit mit den richtigen Leuten zusammen sein, damit man an Galerist*innen oder Kurator*innen drankam.“
Es ist bekannt, dass die Kunstszene ein hartes Pflaster mit viel Konkurrenz ist. Laut der Studie von dem Kunstmarktexperten Magnus Resch hängt der Erfolg der Kunstschaffenden meistens von ihrem Netzwerk ab. Um die richtigen Kontakte zu knüpfen und zu unterhalten, bietet Instagram mit seinem visuellen Schwerpunkt die besten Voraussetzungen. Seit einem Jahrzehnt mischt das soziale Netzwerk die Kunstszene heftig auf, denn auch in diese hat die Digitalisierung ihren Einzug gehalten. „Vor Instagram musste man immer zur richtigen Zeit mit den richtigen Leuten zusammen sein, damit man an Galerist*innen oder Kurator*innen drankam.“ Sie sind die Schnittstelle zwischen Kunstschaffenden und Publikum und entscheiden darüber, welche Kunstwerke in ihren Galerien ausgestellt werden.
Diese Personen bezeichnet Regina Fasshauer, Leiterin des Kunstbüros der Kunststiftung Baden-Württemberg, als sogenannte „Gatekeeper“. Sie beobachtet, dass Instagram einen Weg an ihnen vorbei bietet und Kunstschaffende unabhängiger werden lässt. Die Digitalisierung überschreitet dabei die Schwelle, die Museen oder Galerien immer noch haben. Mit der App ist es für Jessina einfach, eine hohe Reichweite zu bekommen und ihre Kunst für Menschen zugänglicher zu machen, die normalerweise nicht in der Kunstszene unterwegs sind. „Ohne Instagram muss man dafür andere, schwierigere Wege finden“, stellt sie fest.
Mit rund zwei Milliarden Nutzern ist Instagram das viertgrößte Netzwerk der Welt. Auch fast 28 Millionen Deutsche verbringen hier täglich ihre Zeit, das entspricht in etwa einem Drittel der deutschen Bevölkerung. Keine Galerie könnte an einem Tag so viele Besucher anziehen. Die Social-Media-Königin dagegen lenkt mit ihrem bunten Bauchladen Millionen Blicke auf sich. Sie hat Platz für die Kunst der ganzen Welt. Dabei bietet das soziale Netzwerk ein radikales Selbstkonzept: frei, feministisch und avantgardistisch. Mittlerweile nutzen kleine sowie große Künstler*innen ihre eigene Instagram-Seite als digitales Portfolio.
Fasshauer findet, das mache die Kunst demokratischer. Sie spricht von einer Erweiterung des Spielfelds. Der richtige Umgang damit interessiere immer mehr Kunstschaffende: Im Angebot des Kunststiftung treffen Workshops wie „Künstler*innen und Social-Media“ auf eine extrem hohe Nachfrage. Doch auch die sogenannten „Gatekeeper“ wie Galerist*innen, Museen und Kurator*innen verwenden die Plattform. Als Marketingtool für die eigene Sache, für Influencer-Kooperationen oder um aufstrebende Künstler*innen zu entdecken. Es wird deutlich: Ohne die App wäre man in der Kunstbranche sehr eingeschränkt. Die soziale Plattform schenkt Reichweite und erleichtert damit die finanziellen Unsicherheiten innerhalb der Kunstwelt. Aber wie verändert das die Szene?
„Kunstwerke, die im Museum hängen sprechen für sich. Die Kunst auf Instagram tut das nicht. Hier braucht es einen Charakter dahinter, um sie erfolgreich zu vermarkten.“
Leuchtend glimmt die rote Glut eines Räucherstäbchens vor sich hin, während leise Musik aus der Anlage tönt. Im Winter ist es im Atelier manchmal zu kalt und Jessina weicht dann auf ihr WG-Zimmer aus. Süß duftende Rauchschwaden mischen sich mit schummrigem Licht, während sie konzertiert am alten Holztisch sitzt. Ihr Smartphone über den zeichnenden Händen, festgesteckt in einem aufwändig drapierten Stativ. So sieht es aus, wenn Jessina Content für ihre Instagram-Community filmt. „Meine Bilder sind am Ende nur eine Spur von einem langen Prozess. Und ich glaube, Menschen wollen dahinter blicken und verfolgen, wie ein Bild entsteht.“ Vor allem die Malerei ist auf Instagram sehr beliebt und hat sich dort zur beliebtesten Kunstform entwickelt. Doch um viele Likes und Kommentare zu erhalten, müssen die Kunstwerke auf Instagram richtig in Szene gesetzt werden. „Kunstwerke, die im Museum hängen, sprechen für sich. Die Kunst auf Instagram tut das nicht. Hier braucht es einen Charakter dahinter, um sie erfolgreich zu vermarkten“, erklärt die Künstlerin.
Auf dem dunklen Holzboden des Zimmers liegt eine Matratze. Rund um die große Fensterfront stapeln sich zwischen Zimmerpflanzen und Vintage-Möbeln zerknautschte Farbtuben, Pinsel und alte Bücher. Neben authentischem Storytelling braucht es auch ein Umfeld, das instagrammable ist: Mit ihrem hellen Atelier und dem künstlerischen Altbau-Zimmer trifft die Kunststudentin den Instagram-Look. Damit kann sie ihre Kunst auf der Plattform optimal in Szene setzen. Bekannte Kunstschaffende wie Johanna Dumet oder Alexander Heller beschreiben, dass die Investition in ein schönes Atelier in Kombination mit einer gekonnten Selbstinszenierung ein wichtiger Schritt für ihre Karriere war. Für die soziale Plattform zeichnet sich ein Erfolgsrezept ab, dem viele Kunstschaffende folgen. Die Qualität der Kunst auf Instagram wird oft kritisiert: Einheitsbrei, alles nur kopiert, Künstler*innen wollen dem Algorithmus gefallen. Könnte Kunst zum Produkt werden?
Jessina nickt. Sie findet, dass manche Ausstellungen wie für Instagram gemacht wirken. Sie zeigen fotogene Positionen, die möglichst viele Storys und Interaktionen provozieren sollen. Aber auch die Malerei habe sich verändert, um besser auf Instagram zu passen: Große Gemälde, die aufgrund ihrer üppigen Haptik etwas schwieriger in den sozialen Medien abzubilden sind, werden teilweise etwas kompakter und flacher. Fasshauer beobachtet auf Instagram, dass sich die Ansprüche der Kunstschaffenden spalten. Auf der einen Seite stehen Kunstwerke, die für unsere Gesellschaft wichtig sind, ohne dabei Instagram gerecht werden zu wollen. Demgegenüber stehen Kunstschaffende, deren Selbstinszenierung sie zum Maler*in macht, und nicht die Kunst selbst. „Dekorative Kunst“ nennt sie das. Auch das sei nichts Verwerfliches. Aber das seien dann eher Profis im Marketing als Profis in der wirklich relevanten Kunstproduktion.
„Wenn man etwas verändern will, ist es nicht immer gut, gegen ein System zu arbeiten. Dann ist es besser, etwas von innen heraus zu verändern.“
Inzwischen ist es draußen dunkel geworden. Das Video ist abgedreht und Jessina scheint zufrieden zu sein. Bevor es auf Instagram online geht, muss es noch geschnitten werden. Für die Kunststudentin sind diese Prozesse bereits fest in ihren Alltag integriert. An der Kunsthochschule zeige sich jedoch, dass nicht alle angehenden Künstler für den digitalen Wandel bereit seien. Dort beobachtet sie ein 50:50-Verhältnis zwischen dem analogen Weg und der digitalen Vermarktung. Für Jessina steht jedoch fest, dass digitale Medien aus ihrem künstlerischen Alltag nicht mehr wegzudenken sind. „Wenn man etwas verändern will, ist es nicht immer gut, gegen ein System zu arbeiten. Dann ist es besser, etwas von innen heraus zu verändern.“
Dabei müsse der Umgang mit diesen Medien aber locker und leicht sein. Auch Expertin Regina Fasshauer betont, dass dies eine bewusste Entscheidung sein sollte und dann auch professionell umgesetzt werden muss. Das sei nicht jedermanns Sache. Und das ist auch okay. Es gibt auch andere Wege, sich zu vernetzen. Beispielsweise durch Stuttgarts Förderprogramme oder die Kunststiftung: Hier wird Künstler*innen mit Stipendien der finanzielle Druck genommen. Mit 12.000 Euro können sie sich ein Jahr lang ganz auf ihre Kunst konzentrieren. Kunststiftungen sind aber nicht nur Geldgeber. Den Stipendiaten wird ein breites Angebot an Ausstellungen oder Workshops geboten. Das gibt vor allem Sichtbarkeit und die Möglichkeit zum Netzwerken. Während Jessina die bunten Farbtuben und Utensilien wegräumt, blickt sie etwas traurig von ihrem Schreibtisch auf. Als angehende Künstlerin seien für sie digitale Medien und Ausstellungen wichtig. Den Spagat zwischen Instagram und dem Kunstbetrieb zu meistern, das ist für Jessina der größte „innere Struggle“.