„Alle Weltmeistertitel sind schön und gut, aber mein menschlich größter Erfolg ist das, was ich für Kinder gemacht habe.“
Harte Schale, weicher Kern
„Ich bin im tiefsten Anatolien groß geworden. Am 13. März 1992 gab es dort eines der größten Erdbeben der Geschichte der Türkei. Es war schrecklich. Du denkst, dass kein Boden mehr unter deinen Füßen ist. Es war eine Kraft, gegen die du nichts machen kannst. Ich lag selbst nicht unter Trümmern, aber einige Familienmitglieder schon. Früher gab es keine professionellen Rettungsdienste, wir hatten nicht mal ein Telefon. Bis die Hauptstadt davon wusste, hat es vier, fünf Stunden gedauert – die ganzen Verbindungen waren unterbrochen. Wir haben alles von Hand geräumt. Es waren rund 85 Prozent der Gebäude komplett weg. Danach hat sich mein Leben geändert. Am 5. Mai 1992 bin ich nach Deutschland gekommen, um nochmal zur Schule zu gehen und bei meinem Onkel und seiner Familie zu leben.
Als ich 1992 hier in Deutschland gelandet bin, war meine allererste Arbeit nach der Schule, LKWs auf- und abzuladen. Es war mein Ziel, auf eigenen Beinen zu stehen. Nach einem Unfall Ende der 90er-Jahre war ich schwer verletzt. Da habe ich mich oft selbst gefragt: Warum bin ich betroffen? Der Arzt meinte, ich solle mich ein bisschen ablenken und Sport machen. Deshalb bin ich 2000 in das Kickboxen reingerutscht. Es war nicht geplant, sondern ist durch eine gesundheitliche, psychische Empfehlung gekommen. Dass ich direkt nach einem Jahr Wettkämpfe gewonnen habe, war für mich überraschend, ich wollte nur teilnehmen.
Heute erinnere ich mich gerne an meine fünf Weltmeistertitel zurück. Alle waren richtig schön, aber der letzte Titel war für mich ganz besonders und unbeschreiblich. Der letzte Kampf 2013 hat mich nochmal aufgebaut und war ein genialer Abschluss. Diesen Moment werde ich nicht vergessen. Doch es gab auch eine schlimme Erfahrung in meiner Profi-Karriere: 2009 waren mein komplettes Knie und die Kreuzbänder verletzt. Mir wurde gesagt, meine Karriere sei beendet, man könne mit diesem Knie nicht mehr trainieren oder kämpfen. Ich war schon einmal Weltmeister 2006, aber ich hatte den Traum, den damals weltgrößten Titel der World Karate and Kickboxing Association (WKA) zu gewinnen. Zehn Monate nach der OP stand ich im Ring um den WM-Titel und habe gewonnen. Ich bin in Anatolien groß geworden, uns liegt das Kämpfen im Blut. Ich hatte keine andere Möglichkeit als mich zurückzukämpfen. Ich bin nicht hier geboren und musste für alles kämpfen. Dadurch hieß es für mich: Augen zu und durch. Ich hatte nichts mehr zu verlieren und musste es einfach schaffen.
Neben meiner aktiven Kämpferzeit habe ich parallel als Trainer gearbeitet. Einige Leute wollten, dass ich unterrichte – für sie war ich ein bisschen ein Vorbild. Also habe ich meinen Trainerschein gemacht, 2010 mein Studio in Esslingen eröffnet und 2012 meine eigene Sportakademie gegründet. Mein Erfolg ist, dass ich drei Studios aufgemacht habe, die nun schon über zehn Jahre laufen. Bei meinem heutigen Beruf macht es mir besonders Spaß, den Menschen etwas zu geben. Das Allerwichtigste ist Selbstbewusstsein. Und die Kinder zu erziehen, sie von falschen Wegen abzuhalten und ihnen die Disziplin und den kämpferischen Ehrgeiz zu geben. Nicht nur im Ring, sondern auch in der Realität, im Leben.
Im Einsatz für die Mitmenschen
Ich engagiere mich schon lange im sozialen Bereich, habe in meiner Heimat dafür gesorgt, einige Kinder in die Schule zu schicken. Erst waren es drei Kinder, dann sieben, dann 13, dann 30 und irgendwann habe ich mit einem Freund im letzten Dorf im tiefsten Anatolien eine Grund- und Realschule gebaut. Das war dort zuvor immer ein bisschen schwierig, die nächste Schule war sieben Kilometer zu Fuß entfernt. Inzwischen wurde die Schule von der Stadt übernommen, wir unterstützen dort heute noch immer 53 Kinder. Das war in meinem Leben der größte Erfolg. Alle Weltmeistertitel sind schön und gut, aber mein menschlich größter Erfolg ist das, was ich für Kinder gemacht habe.
Als ich vom diesjährigen Erdbeben in meinem Heimatland erfuhr, hat mich der Schlag getroffen. Ich bin morgens aufgewacht und das Erste, was ich im Fernsehen gesehen habe, war: „Erdbeben in der Türkei“. Ich habe erst nicht verstanden, wie groß es war. Aber drei Minuten später wusste ich, dass es eine Jahrhundertkatastrophe war. Ich habe mich gleich angezogen und das türkische Konsulat, in der Türkei und bei meinen Freunden angerufen. Leider sind auch 17 Leute aus meiner eigenen Familie gestorben.
Ich habe mich sehr betroffen gefühlt und musste etwas machen. Also habe ich hier eine große Spendenaktion gestartet und bin acht Tage später in das Erdbebengebiet geflogen. Ich habe mehrere Sprinter vollgeladen und bin über 2400 Kilometer vom ersten bis zum letzten Ort gefahren. Wir hatten in den Sprintern Lebensmittel, Kleidung und Hilfsgüter. Alles, was ein Mensch zur Soforthilfe braucht. Bei den Bergungen kann man nicht helfen, da es riesige Gebäude sind, für die es Bagger braucht und man durfte das auch wegen der Einsturzgefahr nicht. Wenn jemand lebend unter den Trümmern ist, wird es noch gefährlicher.
Vielleicht habe ich insgesamt nur zehn Prozent gesehen, aber es war eine Hölle. Ich habe mich zurückerinnert. Es war schwierig. Es trifft mich jedes Mal, wenn ich daran denke, meine Vergangenheit und diese Schmerzen, diese Angst…es gibt keine Worte, die sowas erklären können, wenn man das erlebt hat. Als ich die Menschen, die Toten, die Leichen, die Kinder sah, habe ich die vergangenen Zeiten im Kopf gehabt. Aber ich bin sehr glücklich, dass die ganze Welt reagiert hat und so viel Hilfe geschickt wurde. Die nächsten fünf Jahre müssen die Menschen dort weiter kämpfen. Zuerst müssen die ganzen Gebäude weggemacht werden, sie werden ein paar Jahre in Zelten leben und danach wird alles wieder aufgebaut werden. Das wird nicht von heute auf morgen passieren, sondern lange dauern. Ich werde auch selbst nochmal in das betroffene Gebiet fliegen, die übrigen Spenden weitergeben und mich weiter darum kümmern.“
Die Redakteurin steht in freundschaftlicher Beziehung zu dem Protagonisten.