Europa ist am Zug
Kurz vor 9 am Stuttgarter Hauptbahnhof. Jutta steht an Gleis 8, ein Rucksack auf dem Rücken, einer vor der Brust, in der Hand ihr Tagebuch. 100 leere Seiten, bereit gefüllt zu werden. Vier Wochen später werden sie die Geschichte einer unvergesslichen Reise erzählen. „Bitte alle Passagiere nach Paris einsteigen“, tönt es durch die Lautsprecher. Jutta betritt den Zug, es gibt sogar noch einen Platz am Fenster. Sie schlägt das Tagebuch auf, beginnt oben rechts zu schreiben: Interrail Tag 1, 14. August 1990.
3. Mai 2018. Seit einigen Wochen ist der Begriff Interrail wieder in aller Munde. Was schon vor über 30 Jahren jungen Erwachsenen wie Jutta die Freude am Reisen nähergebracht hat, ist nun zum politischen Thema geworden. Die EU will Jugendlichen in ganz Europa zum 18. Geburtstag Interrail Tickets schenken. Damit hat sie einen Gedanken aufgegriffen, der in den letzten Jahren viel Begeisterung unter den Europäern entfacht hat. Angefangen hat alles ganz klein, mit einer Idee der beiden Aktivisten Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer. Das war 2014. Zu diesem Zeitpunkt hätten die beiden es kaum für möglich gehalten, dass es ihre Vision zwei Jahre später in das Europäische Parlament schafft. Wie kam es dazu, dass ein Wunschtraum zweier Aktivisten von einflussreichen Politikern diskutiert wird? Und wie kann ein solches Projekt überhaupt umgesetzt werden?
Rainer Wieland, Vizepräsident des EU-Parlaments, berichtet, wie er die Entwicklung der Bewegung miterlebt hat.
Umgesetzt wird die Vision also erst einmal als Pilotversuch. Ob eines Tages tatsächlich alle 18-jährigen Europäer einen kostenlosen Interrailpass erhalten, ist noch ungewiss. Fest steht: Ein Projekt in dieser Größenordnung kostet viel Geld. Geld, das die EU nicht einfach so aus dem Ärmel schütteln kann. Daher stellt sich in der Debatte die Frage, ob diese finanziellen Mittel an anderer Stelle nicht dringender benötigt werden.
Andererseits können junge Menschen durch Interrailreisen viele Glücksmomente und Lebenserfahrungen sammeln. In Zügen, auf Bahnhöfen und in Gepäckablagen wurden seit Beginn des Interrails 1972 einige außergewöhnliche Geschichten geschrieben. Darunter auch die von Jutta und Sven.
Jutta und Sven sind bereits wenige Jahre nach dem Verkauf des ersten Interrailtickets mit ihren Rucksäcken losgezogen. Sven im Jahr 1983, Jutta 1990. An Smartphones war damals noch lange nicht zu denken, was ein Selfiestick ist, wusste zum Glück noch niemand und Google Maps wurde erst zwei Jahrzehnte später erfunden. Wie haben sie es trotz alldem geschafft, in Großstädten nicht verloren zu gehen und nach einem Monat wieder unversehrt in die Heimat zurückzukehren?
Fancy Hostelzimmer vs. Gepäckablage im Zug
Während man heute seine Übernachtungen über Apps wie „Hostelworld“ oder „Airbnb“ planen kann, musste man sich früher um einiges spontaner zu helfen wissen.
Ein Hostelzimmer reservieren? Dafür bräuchte man erstmal die Telefonnummer. Oder müsste wissen, ob es in der Stadt überhaupt ein Hostel gibt. Und das herauszufinden ohne Internet? Eher problematisch, findet Sven. Er und seine Freunde hatten stattdessen einige kreative Schlafplatzideen. Wenn sie nicht gerade unter freiem Himmel oder am Bahnhof geschlafen haben, war eine Fahrt im Nachtzug eine gute Alternative. Für sie war es völlig normal, sich mit dem Schlafsack in den Gang zu legen, laut Sven ein „Goldplatz“. Auch wenn hin und wieder Leute Koffer über sie gezogen haben. Zur Not hat es aber auch die Gepäckablage getan. Auch Jutta hat das mal versucht – aber nur zum „Probeliegen.“ Auf ihrer Reise wurde das Zelt zu einem treuen Begleiter. Bahnhofsböden oder Felsklippen waren ihr zu unsicher.
Familien-WhatsApp-Gruppe vs. der verschollene Sohn
„Wenn irgendwas passiert, bekommt man’s schon mit“, so Svens Mutter vor seiner Abreise. Wo sie recht hat, hat sie recht, dachte sich Sven und verzichtete in den vier Wochen Interrail aufs Nach-Hause-telefonieren. Während es heute selbstverständlich ist, Familie und Freunde regelmäßig über WhatsApp mit den neuesten Schnappschüssen zu versorgen, war eine vollständige Funkstille damals nichts Ungewöhnliches. Wer seine Erfahrungen schon während der Reise mit den Liebsten teilen wollte, schrieb Postkarten oder verschickte Briefe. Davon hat Jutta sogar stolze 50 Stück nach Hause gesendet.
Währungsfreiheit vs. freie Fahrt
Eine Zeit ohne Euro? Heute kaum vorstellbar, in den 80er-Jahren aber Realität. Das bedeutete: In einem anderen Land angekommen ging der erste Fußmarsch vom Bahnhof direkt zur Wechselstube. D-Mark in Franc, Franc in Peseta, Peseta in Lira. Hört sich kompliziert an, war es auch. Heute spüren Reisende in diesem Punkt eine Freiheit, die die Währungsunion mit sich bringt. Jutta und Sven haben dafür andere Freiheiten gespürt. Zum Beispiel als Sven unter marokkanischem Wüstenhimmel das Gefühl hatte, die Sterne vom Himmel greifen zu können. Oder als Jutta im fahrenden Zug den Kopf aus dem Fenster gestreckt hat, den Fahrtwind im Gesicht und die vorbeirasenden Lavendelfelder der Provence vor Augen. Diese Art der Freiheit bleibt Interrailern heute leider verwehrt, die meisten Zugfenster lassen sich heute nicht mehr öffnen. Die Landschaft bewundern geht aber trotzdem.
Kurz vor 10 auf dem Waiblinger Galgenberg. Sven geht auf seine Haustür zu. Der Rucksack fühlt sich schwerer an als zu Beginn der Reise. Er ist froh, das Gepäck nach vier Wochen endlich endgültig ablegen zu können. Gleichzeitig würde er am liebsten sofort wieder losziehen, in den nächsten Zug steigen, fremde Länder bereisen. Es gibt noch so viel zu sehen.