Gekommen, um zu bleiben? Ein Jahr mit dem Virus
„Mein Rekord liegt bei 500 Metern ohne Sauerstoff“ – Rahel W. lächelt müde und blickt verloren aus dem Fenster in einen blau-grauen Sonntagshimmel. Fast ein Jahr ist es her, dass sie an Corona erkrankt ist. Heute sitzt die 31-Jährige mit Kuschelsocken und Flauschpulli auf einer kleinen Couch im Haus ihrer Eltern. Ihre langen, dunkelbraunen Haare umrahmen ein blasses Gesicht mit ausdrucksstarken, glänzenden Augen. Ihre Haltung ist bequem, aber stolz. Ihre rechte Hand liegt immer wieder auf dem Arm ihres Partners Albert. Er ist das, was übrig ist aus ihrem Leben. Job, Wohnung und Selbstständigkeit sind weg. Stattdessen ist da vor allem Ungewissheit. Eine Ungewissheit, die auch ganz Deutschland beschäftigt: Wann bestimmt Covid-19 endlich nicht mehr das Leben? Knapp ein Jahr ist es her, als die Auswirkungen des Virus für Rahel und Deutschland plötzlich spürbar wurden.
Der schockierende Frühling
Februar 2020: Rahel schleppt schwere Möbel in den fünften Stock. Es fällt ihr leicht, denn sie ist voller Vorfreude. Die neue Wohnung liegt im Zentrum, nur zehn Minuten bis zum Meer und zur Arbeit hat es die Projektmanagerin auch nicht weit. Seit zwei Jahren lebt sie nun im beliebten Urlaubsort Santander im Norden Spaniens. Jetzt will sie es sich endlich richtig heimatlich machen. Aufgewachsen ist sie über 1000 Kilometer entfernt, in einem verträumten Örtchen bei Stuttgart. Ihr letzter Arbeitgeber in Deutschland: Die Klinik am Eichert, das Krankenhaus der Industriestadt Göppingen. Während sie es sich im entfernten Spanien gemütlich macht, wird dort der erste Corona-Fall Baden-Württembergs verzeichnet. Rahel lacht sarkastisch, wenn sie daran denkt: „Ausgerechnet die Klinik am Eichert!“ Wie die meisten Deutschen kennt sie die Gefahr bisher nur aus dem Fernsehen.
Nur wenige Wochen später wird die Gefahr auch für Rahel real. Das Coronavirus breitet sich in Spanien rasant aus. Während Deutschland in einen Lockdown geht, verhängt Spanien einen Alarmzustand: Alles ist geschlossen außer Supermärkten, Arztpraxen und Apotheken, sogar Spaziergänge und Sport sind verboten. Damit Rahel und ihr Partner Albert zusammenbleiben können, beschließt er Hals über Kopf, bei ihr einzuziehen. Um sich zu bewegen, läuft das junge Paar im Treppenhaus immer wieder hoch und runter. Doch als Rahel eines Tages vom Einkaufen zurückkommt, schafft sie die Treppen fast nicht mehr. „Ich fühlte mich schlapp, hatte etwas Halskratzen und dachte, ich hätte mich erkältet.“ Schon nach kurzer Zeit kommen Symptome dazu, die die gelernte Kinderkrankenschwester nicht erklären kann: „Meine Lunge fühlte sich an, als hätte ich einen Sack Mehl auf der Brust, gegen den ich ankämpfen musste.“ Gleichzeitig meldet Spanien fast 1000 Tote an einem Tag. Im Vergleich: In Deutschland sind es „nur“ 176. Überhaupt scheint Deutschland vergleichsweise gut durch die erste Welle gekommen zu sein. Schon drei Wochen später, am 20. April lockern die Bundesländer nach und nach die Beschränkungen. Für Rahel hingegen hat sich die Lage dramatisch verschlimmert. „Ich bekam Atemnot und habe immer wieder gedacht, ich ersticke.“ Bereits wenige Tage nach dem positiven Corona-Test konnte sie nicht mehr allein aufstehen. Wo sie sich angesteckt hat weiß sie nicht, vermutlich im Supermarkt. In den Wochen danach folgte etwas, das heute wie ein Trauma klingt: „In der Notaufnahme haben sie mir einfach nicht geglaubt. Sie haben gesagt, dass das nicht sein könne und nur alte Leute schwer an Corona erkranken würden.“ Dann sei sie wieder heimgeschickt worden, mehrmals. Sie schaut bei der Erinnerung ins Leere und ihre Stimme wird zittrig: „Ich war fertig. Selbst kurze Telefonate musste ich abbrechen. Ich habe meine ganze Kraft gebraucht, um die Luft noch irgendwie in die Lunge zu kriegen.“
Die kurzen Telefonate führten nach Deutschland zu Rahels Familie. Dass im Mai Restaurants und Cafés öffnen und die Bundesliga wieder losgeht, interessiert die Familie nur am Rande: Rahels Eltern und Geschwister versuchen seit Wochen verzweifelt, irgendwie zu helfen. Spaniens Grenzen sind dicht, ohne Ausnahmen. „Ich habe mit der halben Welt telefoniert: Auswärtiges Amt, Botschaft, Bundesgrenzschutz, ADAC, Malteser…Es hilft dir kein Mensch“, berichtet die Mutter heute. Sie sitzt mit ihrem Mann am hölzernen Esstisch, vor ihr ein liebevoll selbstgebackener Zwiebelkuchen. Sie wirkt wie eine starke, unerschütterliche Frau und dennoch schaut sie mit tiefem Stirnrunzeln besorgt zu ihrer kranken Tochter, die ihren müden Kopf auf der Schulter ihrer Schwester ausruht: „Es war furchtbar, wir saßen daheim und drehten schier durch. Außer beten konnte ich nichts mehr machen.“ Schließlich war es der Vater, der doch noch einen Weg fand, der schwerkranken Tochter zu helfen: Über einen Freund gelang es ihm, ein mobiles Sauerstoffgerät zu beschaffen und an Rahel zu schicken. „Wir haben uns gefragt: Kommt das an? Geht das ohne Arzt? Hilft das überhaupt bei Corona?“ Die Antwort sitzt noch heute mit am Küchentisch: Rahel trägt das Sauerstoffgerät seitdem täglich bei sich. „Ich weiß nicht, ob ich es ohne geschafft hätte“, erzählt sie leise.
Der hoffnungsvolle Sommer
Juni 2020: Deutschland hat jetzt eine Corona-Warn-App und verbringt einen weitgehend lockeren Sommer. Die Menschen liegen im Freibad, am Badesee oder sogar im Urlaub an der Ostsee. Spanien beendet erst Mitte Juni den Corona-Notstand, zwei Monate später als Deutschland. Sofort steigt Rahels Familie ins Auto. Bei der Ankunft ist die Mutter erschüttert: „Ich habe es schon schlimm erwartet, aber es war noch viel schlimmer.“ Die Familie beschließt sofort, Rahel mit nach Deutschland zu nehmen. Für ihren Partner Albert sind es die ersten Tage seit über zwei Monaten, in denen er sich mental und physisch ausruhen kann. Er atmet bei der Erinnerung tief durch und spricht auf Spanisch ungewöhnlich leise und langsam: „No podía dormir porque no sabía si iba a vivir.“ Nicht zu wissen, ob sie überleben würde, brachte ihn um den Schlaf. Rahel legt bei der Erzählung ihre Hand auf seinen Arm, schaut ihm tief in die Augen und kämpft mit den Tränen: „Er hat sich nie beschwert und mir den ganzen Tag Sachen gebracht, gekocht, mich ins Bad getragen und sogar meine Haare im Bett gewaschen. Ich weiß, dass ich ohne ihn dort gestorben wäre.“
In Deutschland zeigt sich, dass bei immer mehr Corona-Erkrankten Spätfolgen auftreten. Doch wer kümmert sich um sie? An der Medizinischen Hochschule Hannover wurde inzwischen eine Corona-Ambulanz eröffnet. Auch Rahel schlägt dort auf und fühlt sich zum ersten Mal von Ärzten so richtig verstanden. Die Diagnose: Post-Covid. In ihrem Fall: Atemnot, das kräftezehrende Fatigue-Syndrom, Halsweh, Schüttelfrost, Konzentrationsstörungen, Wortfindungsstörungen und Geschmacksverlust. Doch von wirkungsvollen Heilungs- oder Therapiemethoden scheinen auch die Ärzte in Hannover noch weit entfernt. Stattdessen ist Rahel auch nach fünf Monaten noch so platt, dass sie nur wenige Meter laufen kann. Ihren Sommer verbringt sie auf dem Liegestuhl im Garten. An guten Tagen schiebt Albert sie geduldig im Rollstuhl und mit Sauerstoffgerät durch das verschlafene schwäbische Dorf und den angrenzenden Wald. Ende des Sommers erklärt das Robert Koch-Institut ihre alte Heimat Spanien erneut zum Risikogebiet. Geht alles wieder von vorne los?
Der frustrierende Herbst
Schon der Oktober liefert eindeutige Antworten: Deutschland meldet mehr als 7.000 Infektionen am Tag, ein neuer Höchststand seit Beginn der Pandemie. Gleichzeitig sind die Spätfolgen für Rahel fast unverändert. Sie wendet sich an Robin Benzinger, einen Stuttgarter Physiotherapeuten, der sich bestens mit Lungenkrankheiten auskennt. Er wirkt selbstbewusst, optimistisch und erfahren. Beim Gedanken an Rahel aber schluckt er und senkt bedrückt die Stimme: „Rahel ist ein erschreckendes Beispiel, das einem zu denken gibt.“ Heute hat er um die 15 Post-Covid-Fälle in der Praxis. Tendenz: steigend. Altersdurchschnitt: etwa 35 Jahre. Eine Therapie, die allen hilft, gebe es nicht. Im Gegenteil: Der Physiotherapeut vergleicht die Corona-Erkrankung mit der schweren Nervenkrankheit Multiple Sklerose: „Man sagt zur MS, es wäre die Erkrankung der 1.000 Gesichter, Corona hat genauso 1.000 Gesichter.“ Die Auswirkungen seien bunt gemischt, nur eins hätten all seine Patienten gemeinsam: Das Fatigue-Syndrom, auch chronisches Erschöpfungssyndrom genannt. Es sorge für viel Frustration, da normale Therapien häufig durch Erschöpfung nicht anwendbar seien: „Wenn eine 30-Jährige es jetzt als Erfolg verbuchen muss, dass sie eine Minute am Stück Fahrrad fahren kann, dann kann das sehr deprimierend sein.“
Der gnadenlose Winter
Dezember 2020: Deutschland ist inzwischen wieder komplett heruntergefahren. Mit fast 34.000 Neuinfektionen und über 1.000 Toten pro Tag meldet das Robert Koch-Institut düstere Rekorde. Die Corona-Zahlen sind trotz aller Maßnahmen auch Ende Januar noch sehr hoch. Der Einzelhandel, Familien und die Freiheitsrechte leiden massiv unter dem Lockdown, während sich erste Corona-Mutationen auch in Deutschland ausbreiten. Eine erste umfangreiche Studie aus China zu Covid-Langzeitfolgen wird veröffentlicht. Die Ergebnisse haben es in sich: Zwei Drittel der schwer erkrankten Covid-Patienten haben auch ein halbes Jahr danach noch deutlich spürbare Beeinträchtigungen. In diesen Tagen nehmen die Medienberichte über Post-Covid-Fälle merklich zu. Rahel trifft auf einen renommierten Lungenarzt aus Frankfurt, der Interesse an ihrem Fall hat und ihr Mut macht: Ihre Lunge habe sich zu 70 bis 80 Prozent erholt. Allerdings sei die Lunge durch die vergangene Krankheit hochsensibel. Und die Untersuchungen zeigen auch: Es sind keine Antikörper in Rahels Blut zu finden. Heißt: Sie kann erneut an Corona erkranken und trägt jetzt den Titel „Hochrisikogruppe“.
Der neue Frühling
Februar 2021: Die Infektionszahlen sind gesunken und die Menschen sehnen sich nach Öffnungen, während die Sorgen vor den Virus-Mutationen immer größer werden. Rahel ist seit Langem wieder verhalten optimistisch: Sie hat eine Reha in einer Klinik in Heiligen-Damm beantragt, die sich auf Post-Covid-Patienten spezialisiert hat. Zu ihrem Physiotherapeut Robin Benzinger geht sie immer noch zweimal die Woche und feiert weiterhin zumindest kleine Erfolge. Inzwischen organisieren sich viele Post-Covid Patienten im Netz. Unter: www.c19langzeitbeschwerden.de finden sich Austauschmöglichkeiten, Ambulanzen und Fachkliniken. Auf Facebook sammeln sich in etlichen Ländern tausende Betroffene in Gruppen zusammen. Seit Anfang Februar gibt es nun auch in Stuttgart und damit ganz in Rahels Nähe eine Selbsthilfegruppe. Der Initiator Otto Rommel ist ebenfalls im Frühjahr letzten Jahres an Corona erkrankt und leidet an Post-Covid. Er spricht von einer Gemeinschaft von Menschen, die durch ein ähnliches Jahr gegangen sind wie Rahel. Eine Gemeinschaft, die Rekorde wie 500 Meter ohne Sauerstoff als Erfolge feiert. Für sie und für Deutschland ist auch nach einem Jahr offen, wohin die Reise mit Covid-19 noch geht und wie lange das Virus das Leben noch bestimmt. Der Krankheitsverlauf ist weiterhin offen.