„Wenn kein Besucher mehr da ist, dann gehört der Turm und die Stadt mir.“
Boss auf dem höchsten Kirchturm der Welt
7.45 Uhr. Schichtbeginn für Florian Gumper. Der 56-Jährige ist Turmwart am Ulmer Münster, der Kirche mit dem höchsten Kirchturm der Welt. Sein erster Gang führt ihn über 768 Stufen ganz nach oben auf die Spitze des Münsters. Dort sammelt er tote Vögel und abgebrochenes Gestein auf. Anschließend geht er in sein Büro, die Türmerstube. Das gemütliche Zimmer mit der dunklen Holzvertäfelung befindet sich auf 70 Metern Höhe. Ab 10 Uhr stürmen die Besucher den Turm. „Das kann ganz schön stressig werden, gerade im Sommer haben wir bis zu 2.500 Besucher pro Tag“, erzählt der Ulmer. Über 800.000 Besucher besichtigen jährlich das Ulmer Münster, ca. 150.000 davon besteigen den Turm. 2016 wurde das Ulmer Münster von der Deutschen Zentrale für Tourismus auf Platz acht der beliebtesten Ziele in Deutschland gewählt, sogar noch vor dem Kölner Dom.
Um 11 Uhr wirft Gumper einen Blick in den Kalender. Die Beerdigung eines verstorbenen Münstergemeindemitgliedes steht an. Gumper drückt an einem Schaltkasten den Knopf für die Leichenglocke. „Das Münster hat insgesamt zehn Glocken, aber nur zwei werden von Hand betrieben, die Leichenglocke und die Schwörglocke. Das ist Aufgabe des Türmers.“
Wie kommt man zu diesem Beruf?
„Bei einer Kneipentour erzählte mir ein Freund über die Arbeit des damaligen Türmers. Ich war sofort begeistert! Daraufhin bin ich einfach zur Münster-Pforte gegangen und hab’ gefragt, ob sie momentan jemanden suchen“, meint Gumper. Er hatte Glück. Erst war er Aushilfsturmwart, seit drei Jahren ist er Hauptturmwart. Als wichtige Voraussetzung für seinen außergewöhnlichen Beruf sieht Gumper das Interesse an der Geschichte des Münsters. „Die Besucher aus aller Welt haben viele Fragen", erzählt der Turmwart während er in einem alten Buch blättert. In seiner Turmstube hat er eine kleine Bibliothek mit Büchern über das Münster eingerichtet, in der er gerne stöbert. An den Wänden hängen Erinnerungen an Turmwarte aus vergangenen Zeiten. Fotos, Zeichnungen, ein alter Hut, es gibt vieles zu entdecken.
Von einem Aufzug bis zur obersten Plattform wie beim Kölner Dom hält er nichts. „Ich bin der Meinung, dass man sich den Ausblick verdienen muss, das sollte man sich erarbeiten, gerade in der heutigen Zeit, in der alles leicht und schnell gehen soll.“
Im Winter schließt der Turm schon um 16 Uhr. Florian Gumper macht ein letztes Mal seine Runde zur Kontrolle, ob auch keine Besucher mehr auf dem Turm sind. Das ist bis jetzt fast immer gut gegangen. „Als ein Kollege von mir schon auf dem Heimweg war, hörte er es vom Turm rufen: „Help me, please help!“, er hatte einen amerikanischen Touristen bei seinem letzten Rundgang übersehen.“
Das Münster ist die größte evangelische Kirche Deutschlands, stellt aber mit nur 2.500 Mitgliedern die kleinste Kirchengemeinde in Ulm dar. Ungeachtet dessen bildet das Münster das Herz der Stadt. Religion, Architektur, Kunst, Kultur, Geschichte und Musik treffen hier zusammen. Und kaum ein Passant kommt am Münster vorbei ohne seinen Blick auf das prächtige Gebäude zu werfen.
Schon in der Geschichte zeigt sich der Stolz der Ulmer Bürger auf ihr Münster. Im Gegensatz zu vielen anderen Kirchen ist das Münster eine Bürgerkirche. Der Bau wurde 1377 von Bürgern initiiert und bis zur Vollendung 1890 von ihnen finanziert. Ulm war früher eine wohlhabende Reichsstadt und unterstand direkt dem Kaiser. Durch den Handel mit Barchent, einem Mischgewebe aus Baumwolle und Leinen, wurde die Stadt sehr reich. Täglich kamen zahlreiche Händler aus ganz Europa in die Stadt. Möglicherweise war das der Grund, warum eine Stadt mit lediglich 8.000 Bewohnern eine Kirche plante, in die 20.000 Menschen passen würden.
Bedeutung des Münsters heute
Auch heute spielt das Münster eine wichtige Rolle im Ulmer Stadtgeschehen.
„In Ulm hat sich Vieles über die Jahre verändert, aber das Münster bleibt beständig“, meint Thomas Gärtner, Kirchenbeirat im Münster. „Und es ist die Marke schlechthin für Ulm. Wie die Gurke zum Spreewald, so gehört das Münster zu Ulm.“
Die Liebe der Ulmer zu „ihrem Münster“ nutzen zahlreiche Unternehmen in der Region: Münsterbutter, Münstermaultaschen bis hin zu kleinen Schokoladenmünstern – die Liste der Produkte ist lang. Und auch das traditionsreiche Unternehmen Magirus stellte jahrzehntelang Feuerwehrwagen unter dem Logo eines stilisierten Münsters her.
Wie die Ulmer ist auch Gumper stolz auf „sein“ Münster. Ihn freut es, an einem so historischen und wichtigen Platz für Ulm arbeiten zu dürfen und den Touristen den Turm und seine Geschichte zu zeigen. Die letzten Minuten seines Arbeitstages verbringt Gumper am liebsten oben auf der Turmspitze und genießt die Ruhe.