„Jung sein heißt vor allem unendlich viele ungelöste Fragen im Gepäck zu haben.“
Behind the Screens: Die Faszination Reality-TV
Donnerstagabend, 20.15 Uhr. Die brandneue erste Folge der 19. Staffel „Germanys Next Topmodel” (GNTM) steht in den Startlöchern. Immerhin warten wir jetzt schon seit dem Finale im Juni letzten Jahres darauf. Noch ein Blick aufs Handy, dann zu meinen Mädels nach links und rechts. Die ganze WG ist heute wieder am Start. Noch rechtzeitig, bevor Heidis neuer Titelsong aus dem Fernseher ertönt, lässt sich die letzte in der Runde auf die Couch fallen. Ab jetzt heißt es leise sein, es geht los.
Ob die gerade beschriebene Sehnsucht von jedem geteilt wird, sei erstmal dahingestellt. Aber eins ist sicher. Reality-TV hat sich in den letzten Jahrzehnten trotz Kritik zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Unterhaltungslandschaft entwickelt. Fast jede dritte Sendeminute widmet der Sender Sat.1 mit Castingshows wie „The Voice of Germany“ oder gescripteten Doku-Soaps wie „Auf Streife“ diesem Genre. Dies lässt sich aus der ARD/ZDF-Programmanalyse 2022 herauslesen. Reality-TV hat inzwischen einen festen Platz im Programmfernsehen und vor allem in den digitalen Streaming-Plattformen eingenommen. Hier finden sich Dating-Formate, die heutzutage alles von „Love Island“ bis hin zu den Klassikern „Der Bachelor“ und „Bauer sucht Frau“ abdecken. Das Ganze gibts inzwischen auch freizügiger, wie bei „Adam sucht Eva“. Hier sind Singles nackt, ja, also wirklich splitterfasernackt – nicht gelogen, auf einer Insel unterwegs und suchen wie immer die große Liebe. Daneben gibt es die langjährigen Casting-Shows, wie „Deutschland sucht den Superstar“ oder „GNTM“. Relativ frisch auf dem Markt: Überlebenswettbewerbe wie „7 vs. Wild“. Aber natürlich auch Scripted Reality-Shows wie „Berlin Tag und Nacht“. Vor allem bei uns jungen Menschen erfreut sich Reality-TV großer Beliebtheit und die Gründe dafür sind vielschichtig.
Von Reality-TV oder Reality-Show spricht man in Deutschland seit dem Ende der 1980er Jahre. Es kombiniert Elemente von Realität und Inszenierung, um das alltägliche Leben von echten Menschen oder Prominenten zu dokumentieren oder zu inszenieren.
Quelle: bpb
Einfach mal nicht das eigene Drama
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass der wohl größte Aspekt, der uns anspricht, das Drama und die Unterhaltung ist, die Reality-TV bietet. Man könnte meinen, davon haben wir genug in unserem eigenen Leben, aber vielleicht ist es ja genau das, warum die Konzepte der Formate so gut bei uns ankommen. Konflikte und Intrigen stehen regelrecht auf der Tagesordnung, wenn es z.b eine Gewinnsumme zu erspielen gibt. Von unerwarteten Wendungen über emotionale Ausbrüche, wie bei der Umstyling-Folge von GNTM, bietet das Genre eine Fülle von Ereignissen. Diese fesseln und regen zum Weiterschauen an. Es schafft die Möglichkeit, dem Alltag zu entfliehen und Situationen, die man selbst nur allzu gut kennt – beispielsweise die Qual der Wahl der Bachelorette zwischen verschiedenen Männern – aus einer ganz anderen Perspektive zu betrachten. Der entscheidende Unterschied: Als Außenstehende riskiere ich weder meinen Ruf, noch muss ich jegliche Konsequenzen tragen. Man bekommt einen Blick hinter die Kulissen und Herausforderungen des alltäglichen Lebens und all das, ohne die eigenen vier Wände zu verlassen. Reality-TV zeigt eine vermeintlich ungeschminkte Darstellung des Lebens auf. Daher wirkt es oftmals authentischer als andere Medienformate. Mir ist durchaus bewusst, dass ich zwar offensichtlich nicht die Bachelorette bin - zumindest noch nicht – und die Meisten von uns sich diesen stark abstrakten Situationen niemals aussetzen werden. Aber zumindest scheint es echt und der Rest ist doch erstmal Nebensache, oder?
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Erwachsenwerden war noch nie leicht
Wer bin ich? Wer möchte ich sein? Wo möchte ich hin? Fragen, die sich Heranwachsende schon seit Generationen stellen. „Jung sein heißt vor allem unendlich viele ungelöste Fragen im Gepäck zu haben.“, so auch der freiberufliche Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger, der sich intensiv mit dem Thema Jugendliche und Reality-TV auseinandersetzt. In kaum einer Altersgruppe sind Themen wie die große Liebe finden oder Berufswahl von größerer Bedeutung als bei uns jungen Erwachsenen. Durch das Beobachten von Teilnehmenden, die ähnliche Herausforderungen und Probleme durchleben wie wir selbst, beispielsweise eine Trennung oder kaputt gehende Freundschaften, kann man sich in deren Situationen hineinversetzen. Dies kann durchaus Orientierung bieten. Seit jeher beschäftigen sich junge Menschen mit ihrer Identifikation, ihrer Selbstfindung und dem gleichzeitigen Wunsch, wie alle anderen zu sein.
Die Reality-TV-Branche verändert sich. Hätte jemand noch 2004 GNTM Co-Juror Wolfgang Joop erzählt, dass 2023 ein Curvy Model seine so geliebte Castingshow gewinnt, hätte dieser wohl einen Herzinfarkt erlitten. Während damals nur Mädchen mit den klassischen Victorias Secret 90-60-90 Maßen die Chance auf den Sieg der Show hatten, spielt es bei den Voraussetzungen für die Teilnahme inzwischen keine Rolle mehr wie groß, schwer oder alt man ist. Seit diesem Jahr sogar unabhängig des Geschlechts. Teilnehmende werden inzwischen zwar divers, sind aber definitiv noch lange nicht am Ziel. Auch durch neue LGBTQ-Formate wie „Prince- und Princess Charming“ fühlen sich Zuschauende dennoch immer repräsentierter. Sie können durch Reality-Shows das Gefühl bekommen, Teil einer bestimmten Gemeinschaft zu sein.
Die Anziehungskraft einer verzerrten Realität
Kritik an Reality-Shows existiert vermutlich schon immer.
Meiner Erfahrung nach sind es vor allem hochgebildete Professor*innen oder mein Vater, die ein ziemlich persönliches Problem mit Reality-TV haben zu scheinen haben. Hier passt wohl eher Trash-TV, denn Im Groben und Ganzen kommt eigentlich immer dieselbe Abwertung bei raus: Niveauloser Schwachsinn. Danach kommen noch ein paar Aussagen wie schlimm ja Dieter Bohlen der Juror von DSDS ist und dass wir alle verblöden. Naja, und dann wird ein großer Bogen gespannt zu unserem allgemeinen viel zu großem Konsumverhalten.
Auf der anderen Seite gibt es durchaus auch Kritik, die nicht ganz unberechtigt ist. Die Inszenierung und Bearbeitung von Reality-Shows vermitteln oft eine verzerrte Realität, die weit entfernt von der tatsächlichen Erfahrung vieler Menschen ist. Durch gezielte Schnitte werden Spannungen und Konflikte künstlich verstärkt, um dramatische Unterhaltung zu bieten. Dadurch passiert es schnell, dass gerade bei jungen Menschen falsche Vorstellungen von zwischenmenschlichen Beziehungen und dem alltäglichen Leben entstehen. Wir werden dazu verleitet, diese Inszenierungen als authentische Realität zu interpretieren.
Schneller als gedacht wird man in den Bann einer vermeintlichen Realität gezogen. Jede Woche nur eine neue Folge, überall auf den sozialen Netzwerken Werbung für ein neues Format und die Kandidierenden posten, was das Zeug hält. Wer viel Zeit im Internet verbringt, wird um das Thema Reality-TV nur schwer herumkommen. Die Übergänge zwischen der realen Welt und den Shows sind schon längst nicht mehr erkennbar. Aber ist das nicht genau deren Ziel? Durch Abstimmungstools und 24 Stunden Live-Streams, wie bei Promi Big Brother wird eine fast schon gruselige Nähe zu den Teilnehmern geschaffen. Es werden Gaming-Apps wie „Love Island: The Game“ ins Leben gerufen, welche den kompletten Ablauf der Show simulieren. Ich suche mir mein Aussehen, Namen und natürlich meine eigene Love Interest selbst aus. Die Show lässt sich durch das Treffen eigener Entscheidungen sogar gewinnen – wobei das vermutlich meistens der Fall ist. Ganz bewusst soll uns ein Gefühl von Authentizität und Realität vermittelt werden, denn umso näher man sich dem Ganzen fühlt, desto häufiger und konstanter schaltet man ein. Den Vorteil der Produktionsfirmen hierbei muss man vermutlich nicht erklären. Spoileralarm: Es ist Geld.
Trotz der Kritikpunkte ist und bleibt Reality-TV für uns junge Menschen ein faszinierendes und unterhaltsames Medium. Mit der zunehmenden Verbreitung von Streaming-Plattformen und Social-Media-Interaktionen wird das Genre voraussichtlich weiterhin an Beliebtheit gewinnen und sich weiterentwickeln. Es liegt jedoch an uns den Zuschauenden, die Grenzen zwischen Schein und Sein zu erkennen, kritisch zu hinterfragen, was wir konsumieren und sich der potenziellen Auswirkungen von Reality-TV bewusst zu sein.
Also liebe Reality-TV Hater: Niemand zwingt euch, den Abend mit Heidi Klum zu verbringen, aber lasst es uns doch machen.