Verkehrspolitik 7 Minuten

Frauen bleiben auf der Strecke

Eine Frau steht am Bahnsteig, rechts fährt eine Bahn vorbei
Die Verkehrsplanung richtete sich lange nach männlichen Bedürfnissen, wie eine aktuelle Studie zeigt. | Quelle: Ramona Willig
12. Dez. 2024

Frauen haben ein höheres Risiko als Männer, bei einem Verkehrsunfall zu sterben. Ihre Anatomie wurde in Crashtests lange nicht berücksichtigt. Auch Straßen und Verkehrsmittel plante die Politik nach männlichen Bedürfnissen. Eine Analyse zum heutigen Stand. 

Verkehrsplanung wird teilweise als „androzentrisch“ bezeichnet. Das ist eine Sichtweise, die Männer als Standard vorsieht und Frauen als Abweichung der Norm betrachtet. Das Nicht-Beachten von Frauen habe jedoch Auswirkungen auf ihren Komfort und ihre Sicherheit, schlussfolgert eine neue Studie des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). Es sei wichtig zu verstehen, welche Bedürfnisse Frauen hätten, damit man Verkehrsmittel anpassen könne.

Männer fahren Auto, Frauen mit der Bahn

Bei typischen Wegstrecken werden Unterschiede deutlich: Bei Männern dominieren lineare Wege von A nach B. Sie pendeln oft zwischen Wohnung und Arbeitsplatz und nutzen häufiger ein Auto – auch, wenn es das einzige im Haushalt ist. Dies könnte eine wirtschaftliche Überlegung sein: Es lohne sich mehr, wenn der (in diesem Fall) besserverdienende Mann mit dem Auto Zeit spart, als die schlechter verdienende Frau. 

Care-Arbeit

Als Care-Arbeit wird unbezahlte Sorgearbeit bezeichnet, dazu zählen Kindererziehung, Pflege von Angehörigen, Hausarbeit oder auch ehrenamtliche Tätigkeiten.

Frauen leisten weltweit deutlich mehr unbezahlte Arbeit als Männer. In Deutschland sind es bei Frauen im Schnitt rund 30 Stunden pro Woche, bei Männern rund 21 Stunden. Fast die Hälfte dieser Zeit besteht aus klassischer Hausarbeit. 

Care-Arbeit, Teilzeit und Mobilitätsmuster hängen zusammen. In der EU arbeiteten 2023 etwa 17 Prozent aller Beschäftigten in Teilzeit. Bei Müttern in Deutschland sind es rund zwei Drittel. Die Gründe für eine Teilzeitstelle unterscheiden sich: Frauen gaben zu 29 Prozent Care-Arbeit als Grund an – bei Männern sind es nur acht Prozent. 

Aufgrund dieser unbezahlten Arbeit verknüpfen Frauen öfter Wege miteinander: Lebt ein Kind im Vorschulalter im Haushalt, legen Frauen 54 Prozent mehr aneinandergereihte Wege zurück. Bei den Männern sind es dagegen nur 19 Prozent. Dies macht weibliche Mobilitätsmuster deutlich komplexer. 

Generell gehen Frauen öfter zu Fuß oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln als Männer. Dies ist neben anderen ein Grund für ihren niedrigeren CO2-Fußabdruck. Ein Bericht des Umweltbundesamtes von 2018 empfahl, genderspezifische Aspekte überall in der nationalen Klimapolitik mit einzubeziehen. 

 Infografik, Männer pendeln mit Auto zur Arbeit, Frauen haben komplexere Wege, sie gehen einkaufen, dann Großeltern besuchen, später nach Hause
Die Wege von Frauen sind verzweigter, insbesondere wenn sie Kinder haben.
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Spitzner, 2020, vcd.org

Laut der Studie des DLR ist es für Frauen außerdem relevanter, dass es in Bussen und Bahnen Abstellplätze für Einkäufe oder Kinderwägen gibt. Diese kämen gleichzeitig Menschen mit Behinderungen zugute, die mit einem Rollstuhl unterwegs sind. 

Diagramm über Fortbewegung von Männern und Frauen
Männer und Frauen bewegen sich unterschiedlich fort. | Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Statistisches Bundesamt (Destatis), 2022. Daten von Eurobarometer/Europäische Kommission, 2019
Diagramm Gründe für Teilzeit von Männern und Frauen
Frauen arbeiten häufiger aufgrund Care-Arbeit in Teilzeit als Männer. | Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Eurostat, 2023

Kann Schneeräumen sexistisch sein?

2011 passierte im schwedischen Karlskoga etwas Unerwartetes. Auf Drängen einer Gleichstellungsinitiative wurde die gesamte Stadtpolitik neu bewertet. Caroline Criado-Perez beschreibt in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen“, ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung habe gescherzt, zumindest das Schneeräumen sei gerecht. Dies wurde überprüft – das Ergebnis überraschte. 

Beim Schneeräumen hatte man bislang zuerst Hauptverkehrsstraßen von Schnee befreit und im Anschluss die Rad- und Gehwege. Letztere bergen jedoch Verletzungsgefahr. In Schweden passieren rund 80 Prozent der Unfälle von Fußgänger*innen aufgrund Eis und Glätte. Außerdem verunglücken dort mehr Frauen, weil sie häufiger zu Fuß gehen. 

Außerdem überlegte man: Es war schwieriger, einen Kinderwagen durch Schnee zu schieben, als mit dem Auto darüber zu fahren. Als Experiment räumte man nun zuerst wichtige Wege der öffentlichen Verkehrsmittel und Fußwege, und erst am Ende die Straßen.

Als Ergebnis sank nicht nur die Zahl der Verletzungen, Karlskoga sparte sogar Geld. 

Wenn Frauen ausrutschen und sich verletzen, kostet dies dem Gesundheitssystem und dem Arbeitsmarkt viel Geld. Eine fünfjährige Studie aus Skåne schätzte diese Folgekosten auf mindestens 3,4 Millionen Euro jährlich. Schneeräumen sei sogar günstiger als die Folgekosten durch Unfälle.

Eine gendergerechte Planung kann folglich dazu beitragen, Verletzungen zu reduzieren und Kosten zu sparen. Von diesen Änderungen könnten nicht nur Frauen, sondern die gesamte Bevölkerung profitieren.

Erst Adam, dann Eva

Ein weiterer Punkt zum Thema Sicherheit: Frauen sterben bei Verkehrsunfällen häufiger als Männer. In den USA wurden über Jahrzehnte Unfallstatistiken erhoben und ausgewertet. Bei jungen Frauen zwischen 20 und 40 Jahren ist das Risiko beispielsweise um ein Fünftel höher als bei Männern im gleichen Alter. 

Ein Grund könnten die Crashtest-Dummys sein, die bei Fahrzeugtests verwendet werden. Lange nutzte man vorrangig einen Dummy, der einem durchschnittlichen Mann entspricht. Er ist 1,75 Meter groß und 78 Kilogramm schwer.

Frauen haben hingegen eine andere Anatomie. Sie haben Brüste, einen anderen Körperschwerpunkt, breitere Hüften und weniger Nackenmuskulatur als Männer. Letztere ist bei Heckunfällen und darauffolgenden Schleudertraumata relevant. Die schwedische Forscherin Astrid Lindner präsentierte Ende 2022 mit „Eva“ den ersten Dummy weltweit, der einer durchschnittlichen Frau entspricht. An diesem hatte sie jahrelang geforscht. Laut dem Autoclub Europa brauche es jedoch Gesetzesänderungen, damit dieser verwendet werde, denn Crashtest-Dummys sind teuer.

Auch schwangere Menschen werden bei Crashtests bislang wenig repräsentiert. Volvo programmierte zwar 2002 einen digitalen, schwangeren Dummy. Auch der ADAC analysierte 2023 Unfalldaten und stellte fest, dass sich Schwangere häufiger im Abdomen verletzen als die Vergleichsgruppe. Insgesamt würden sie sich jedoch nicht schwerer verletzen. Hier gibt es wieder die Einschränkung, dass wenige Daten vorliegen. Die Ergebnisse könnten daher ungenau sein und die Folgen für das ungeborene Kind nicht eingeschätzt werden.

Vorschriften bei Crashtests

In Europa gibt es seit 1998 einheitliche Regelungen, wie Crashtests durchgeführt werden. Neue Fahrzeuge werden von den Autoherstellern oder Verbänden wie dem ADAC nach diesen Vorgaben geprüft. 

Frontalaufprälle wurden bis 2020 mit zwei männlichen „50-Prozent-Dummys“ auf Vordersitzen getestet. Mittlerweile ist eine „5-Prozent-Frau“ auf den Beifahrersitz vorgeschrieben. Sie ist 1,51 Meter groß und 49 Kilogramm schwer und soll die kleinsten 5 Prozent aller Frauen repräsentieren. Eine „durchschnittliche Frau“ ist bislang nicht repräsentiert. 

Astrid Lindner mit dem weiblichen Crashtest-Dummy Eva.
Astrid Lindner mit dem weiblichen Crashtest-Dummy Eva.
Quelle: VTI

Die Zukunft ist pink ...?

Laut mehreren Forscher*innen wie Meike Wenzl sei es wichtig, auf genderspezifische Verkehrspolitik und die bestehenden Datenlücken aufmerksam zu machen. Das Umweltbundesamt forderte 2018, die Bedürfnisse von Frauen in Entscheidungen zu Mobilität und Klimapolitik mehr zu berücksichtigen. Teilweise braucht es für eine Verkehrswende auch größere Gesetzesänderungen auf Bundes-, Länder- und EU-Ebene, wie die Heinrich-Böll-Stiftung erwähnt.

Von einer gendergerechten Verkehrspolitik profitieren, wie am Beispiel des Schneeräumens oder der Klimapolitik deutlich wird, nicht nur Frauen. Teilweise überschneiden sich auch Bedürfnisse von Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht – egal ob Kinderwagen, Fahrrad oder Rollstuhl, alle schieben sich leichter auf geräumten Straßen. Dies zu beachten ist Aufgabe der Politik. Dann wäre Verkehrsplanung inklusiver – und Frauen blieben nicht mehr auf der Strecke.