Mir geht es nicht darum, Gruselgeschichten oder Blutgeschichten zu erzählen, sondern es geht um viel mehr und jeder, der den Podcast hört, weiß das.
Faszination des Bösen
Die gruseligsten Geschichten passieren im realen Leben. Es gibt Millionen True-Crime-Fans, ein Genre, das eigentlich eine Nische ist. Das Geschäft mit den wahren Verbrechen boomt.
Auch die aktuelle Lage lässt niemanden kalt. Inflation, Energieknappheit, eine Pandemie und ein Krieg, der schon fast ein Jahr lang andauert. Dies beschäftigt viele Leute und vor allem Studierende sind durch steigende Mieten und erhöhte Preise im Supermarkt direkt davon betroffen. Trotz anhaltender Krisen – oder gerade deswegen? True Crime zieht Menschen in den Bann. Die Thematisierung wahrer Verbrechen fasziniert, fesselt und beängstigt Menschen zugleich.
Vielleicht gerade aufgrund der uns ungewissen Zeit, lenken sich Menschen mit True Crime ab und sind fasziniert von der kaltblütigen Unterhaltung. Zahlreiche True Crime Podcasts, Magazine oder Serien schießen aus dem Boden. Podcasts sind, dicht gefolgt von Streaming-Anbietern, die beliebtesten Medien für den Konsum von True Crime. Egal um welches Format es sich handelt, für jeden Anspruch und Geschmack gibt es die passende Kriminalgeschichte. Es scheint, als fühlen sich die Menschen magisch angezogen von dem Bösen.
Woher kommt der Hype um das reale Verbrechen?
Woran das liegt, dem möchte ich auf den Grund gehen und befrage dazu Sabine Rückert. Sie war jahrelang Kriminalreporterin bei der Wochenzeitung „Die ZEIT“, deckte Justizirrtümer auf und berichtete als eine der Ersten über Kriminalfälle aus Deutschland. Inzwischen ist sie stellvertretende Chefredakteurin der „ZEIT“, Herausgeberin des True Crime Magazins „ZEIT Verbrechen“ und hostet mit Andreas Sentker einen der beliebtesten deutschen True Crime Podcast „ZEIT Verbrechen“.
Verbrechen haben Menschen schon immer interessiert, aber warum? Der Meinung von Sabine Rückert nach, ist True Crime keineswegs eine Flucht aus der Realität. „Die Menschen, die uns hören, sind vor allem an gesellschaftlichen Phänomenen interessiert.“ erklärt Sabine Rückert. Es seien keine Leute, die am Existenzminimum leben und denen es schlecht ginge – im Gegenteil. Die Faszination zu dem Genre True Crime kommt hauptsächlich durch das Interesse an realer Kriminalfälle.
True Crime zählt zu einem der beliebtesten Podcast-Genres, laut einer Umfrage von Statista und YouGov. Die Beleuchtung des realen Verbrechens fasziniert die Konsument*innen am meisten. Das Opfer, der*die Täter*in, die Kriminalermittlung, der Prozess, Justizirrtümer, gelöste und ungelöste Fälle. Alle Hintergründe der Kriminalfälle werden in diversen Formaten genauestens besprochen. Überraschend ist, dass True Crime besonders bei Frauen extrem beliebt ist. „Es sind vorwiegend junge Frauen, sehr gut situiert, alle sehr gut ausgebildet mit Hochschulabschluss. Wir haben eine Umfrage gemacht und haben ermittelt, wer uns hört und wer uns liest.“ sagt Sabine Rückert und bezieht sich auf die Leser*innen- und Hörer*innenbefragung die der Zeitverlag 2022 durchgeführt hat. Die Hörer*innen seien zu 60-70 Prozent Frauen, das Durchschnittsalter liege zwischen 29 und 30 Jahren. Ein abgeschlossenes Studium haben zwei Drittel und das Einkommen liege bei über 5000 Euro brutto im Monat. Über diese Ergebnisse freut sich Sabine Rückert und ist selbst überrascht über die hohe Zahl der weiblichen Hörerinnen und Leserinnen. Sie erklärt es sich so, dass Frauen mehr Interesse an der Psychologie haben und wie die Menschen überhaupt ticken. „Aus der Verweigerung der MINT-Fächer, weiß man, dass Frauen sich nicht für Technik oder für tote Materie interessieren, sondern eher für Biologie oder lebendige Materie und was gibt es lebendigeres als Kriminalgeschichten, obwohl es dort Tote gibt.“, so Sabine Rückert. Die Assistenzprofessorin Kelli S. Boling befasste sich in einer Studie mit dem Publikum von True-Crime-Podcasts. Sie kam zu dem Ergebnis, dass insbesondere Frauen aus Neugierde, Ablenkung und der Leidenschaft zum Miträtseln, so gerne True-Crime-Podcasts hören. Vor allem die Denkweise und Absichten der Täter*innen hinter dem Verbrechen möchten Frauen verstehen. Dies bestätigt auch die Beliebtheit des Studiengangs Psychologie. In Deutschland liegt der Frauenanteil der weiblichen Studierenden bei über 75 Prozent.
Verzerrte Wahrnehmung von Kriminalität?
Aus den Einschaltquoten weiß Sabine Rückert, welche Folgen am Besten bei den Hörer*innen ankommen: „Polizeifolgen, wissenschaftliche Folgen oder richtig komplexe Geschichten wie den Kachelmann-Fall, sind extrem viel gehört worden. Wie kann es sein, dass der Staat vollkommen außer Kraft gesetzt wird, durch eine einzige Person?“. Finnische Forscher*innen kamen zu dem Ergebnis, durch die intensive Beschäftigung mit besonders spektakulären Kriminalfällen habe man eher Angst, selbst Opfer einer Straftat zu werden. Dadurch wird die Wahrnehmung von Kriminalität bei den Menschen verzerrt. In Wirklichkeit tritt genau das Gegenteil auf. Die Zahl der registrierten Straftaten ist seit Jahren rückläufig. Laut Statista gab es in den letzten Jahren so wenig erfasste Straftaten wie zuletzt Anfang der 90er-Jahre.
Die Auseinandersetzung mit dem Bösen
Ist True Crime Journalismus? Ist es Unterhaltung? Oder ist es beides? Eine dramatisierte und emotionale Erzählweise kann die Wahrnehmung auf Opfer und Täter*innen verändern. Deshalb sind die ethischen Beweggründe der Erzähler*innen wichtig. Für Sabine Rückert ist klar, dass True Crime die Gesellschaft beeinflusst. Wenn man Unfug und Lügenstorys im großen Maße höre, dann habe True Crime keine guten Auswirkungen auf die Gesellschaft. Im „ZEIT Verbrechen“ Podcast handelt es sich um journalistische Kriminalberichterstattung. Alle Fälle aus dem Podcast wurden selbst recherchiert und vorher bereits in der „ZEIT“ oder dem „Verbrechen“ Magazin veröffentlicht. „Ich bin mir auch sicher, dass jedenfalls ZEIT Verbrechen Auswirkungen auf die Gesellschaft hat. Insofern als mir viele schreiben, sie werden jetzt Juristen, gehen jetzt zur Polizei oder sie studieren“, berichtet Sabine Rückert.
Pflicht des Journalismus
„Mir geht es nicht darum, Grusel- oder Blutgeschichten zu erzählen, sondern es geht um viel mehr und jeder, der den Podcast hört, weiß das.“, sagt Sabine Rückert. Dass auf eine umfassende Recherche der Kriminalfälle für den Podcast viel Wert gelegt wird, betont Sabine Rückert auf Nachfrage zum Erfolg von „ZEIT Verbrechen“. Die Geschichten sind immer noch der größte Anziehungspunkt der Hörer*innen. Das weiß auch die Journalistin: „Die Zeitung ist voller Geschichten, die man unter Kriminalgeschichten subsumieren kann, und da wir eine sehr breite Vorstellung davon haben, was eine Kriminalgeschichte ist, findet es hier kein Ende. Und deswegen ist es auch so interessant. Deswegen ist auch eine Art Bildungseinrichtung, was wir hier machen.“.
Zwei wichtige Gründe motivieren Sabine Rückert dazu, über Kriminalverbrechen zu berichten. „Zum einen natürlich ist es die Aufgabe der Presse, zu hinterfragen: Was läuft falsch?“ Bei jeder Art der Berichterstattung sei das so, aber als Kriminalreporterin sei man immer am Existenzkern. „Das finde ich interessant und das ist immer wesentlich.“ Der zweite Antrieb komme durch die Herausforderungen in der Recherche. „Man rennt immer gegen Wände als Kriminalreporterin, immer. Kein Mensch hat Lust, mit einem zu reden. Das dann aufbrechen, da irgendwo ein Loch finden oder eine Tür reinbauen in diese Wand, und dann durchgehen. Das gelingt nicht immer. Es gelingt sogar sehr oft nicht, aber manchmal gelingt es und dann sind es eben ganz besondere Geschichten“, so die „ZEIT Verbrechen“-Chefin.
Genau diese Geschichten üben eine ambivalente Anziehungskraft auf uns Menschen aus. Einerseits sind die Fälle über Mord, Missbrauch oder Verrat erschütternd, kaum zu ertragen und lassen uns am Guten auf der Welt zweifeln. Dennoch fasziniert uns das wahre Verbrechen so sehr, dass Autor*innen mit ihren fiktiven Geschichten aus Serien, Romanen und Filmen das Böse in der realen Welt kaum übertreffen können.