„Radikalisierung über Online-Kanäle kann nur ungestört passieren, wenn keiner eingreift.“
Hinsehen statt wegklicken!
Vier tödliche Schüsse fallen in Wien: Die Nachrichten berichten von einem islamistischen Anschlag. „Dieser Terror hat nichts mit unserer Religion zu tun“, schreibt meine Freundin Melike Özcan in unseren WhatsApp-Chat. Islamfeindliche Kommentare auf sozialen Netzwerken treffen sie hart. Rechte Akteure nutzen solch tragische Ereignisse aus und mischen ihre Ideologie unter die emotional aufgeladene Debatte auf Online-Plattformen. Oft scheren sie Muslime über einen Kamm, setzen Terror in Verbindung mit ihrer Religion und schaffen ein Feindbild – Schießpulver für die islamistischen Gruppierungen. Extreme Töne der anderen Seite bauen sie in ihre eigene Propaganda ein, um Menschen im Netz zu rekrutieren.
Vorteile bietet das Internet allemal: Schnell, einfach und meist kostenlos würden Extremist*innen ihr radikales Gedankengut über große Reichweiten hinweg kommunizieren, sagt Heidi Schulze. Inwieweit das andere Plattform-Nutzer*innen beeinflussen kann, weiß die wissenschaftliche Mitarbeiterin aus ihren Studien an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Sie betont, dass jeder Mensch unterschiedlich anfällig auf extremistische Inhalte reagiere und Radikalisierung ein individueller und komplexer Prozess sei. Doch Letzteres könne schon mal durch extreme Einschnitte im Leben eines Menschen begünstigt werden. Mit Arbeitslosigkeit, Krieg im eigenen Land oder Unsicherheit während der Pandemie nennt Heidi Schulze nur einige davon. Häufiger würden Rekrutierungsversuche auf Jugendliche abzielen, weil sie noch in der Entwicklungs- und Findungsphase stecken. Auffangen und gegensteuern will die Polizei.
Diplompädagoge und Kriminologe Frank Buchheit vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg sieht auch die Nutzer*innen sozialer Netzwerke in der Pflicht.
Der erste gemeinsame Schritt sei, extremistische Inhalte zu erkennen, meint Heidi Schulze. Häufig würden ideologische Aspekte unterschwellig zwischen den Zeilen von Rap-Texten oder selbst in Kochvideos kommuniziert. Ein Bauchgefühl für bedenkliche Inhalte will die Polizei durch Medienkompetenz-Training an Schulen stärken. Wird der radikale Kern einer Nachricht im Netz erkannt, kann die Community Eigeninitiative ergreifen – etwa in Form einer Gegenrede: Das kann eine kurze Reaktion mit Emojis, ein humorvoller oder ein mit Fakten angereicherter Kommentar sein, um extreme Inhalte anzufechten. Ein eindeutiges Rezept gebe es nicht, sagt Expertin Heidi Schulze. Doch sie ist sich sicher:
„Gegenhass erzeugt noch mehr Hass.“
Demnach sollen Kritiker sensibel auf bedenkliche Inhalte reagieren oder diese gleich melden. Letzteres unterstützen Plattformen in ihrem Community Management, denn Inhalte können nie so schnell gelöscht wie verbreitet werden. Auch laut der Polizei sind Hinweise von anderen Internet-Nutzern die beste Methode, um die Reichweite und das damit einhergehende Rekrutierungspotential extremistischer Gruppierungen zu senken.
In der Diskussion über Gegenmaßnahmen berufen sich Extremist*innen häufig auf die Meinungsfreiheit. Überschreitet ein Kommentar diese Grenze, macht sich der*die Autor*in strafbar. Unter verlinkten Portalen im Foto können rechtswidrige Inhalte im Netz gemeldet werden. Diese prüfen dann nach juristischen oder Jugendschutz-Aspekten. Um Opfer von Hassrede kümmern sich im folgenden Foto verlinkte Anlaufstellen, die eine Anzeige übernehmen und Täter*innen zu einer Verurteilung bringen.
Extremistische Inhalte und Hassrede im Netz hätten massiv zugenommen, sagt Heidi Schulze. Aber die Situation könne sich verbessern, wenn Menschen stärker darin geschult werden, bedenkliche Inhalte zu erkennen, richtig zu reagieren oder zu melden. „Schließlich handelt es sich um eine Minderheit, die sich im Netz zusammenfindet und nach einem Attentat mit alten Stereotypen antwortet“, erklärt Frank Buchheit. Man solle ihr couragiert gegentreten und Flagge zeigen für ein faires Miteinander.
Nach Kommentaren voller Hass gegen ihre Glaubensrichtung entdeckt Melike Özcan Beiträge unter dem Hashtag #terrorkenntkeinereligion. Darauf folgen zahlreiche Storys, in denen sich Menschen für die muslimische Community starkmachen. Gemeinsam sind ihre Stimmen lauter als die der Extremist*innen.