„Gute Bilder inspirieren.“
Die zwei Gesichter des Urban Exploring
„Alles begann, als ich mit meinen Eltern in den USA war“, erzählt Tobi. Einfach nur zum Spaß mit der Programmautomatik drauf los fotografiert, ohne wirklich Ahnung davon zu haben. Die erste Kamera finanziert vom Führerscheingeld. „Da war meine Mutter nicht so begeistert“, erinnert er sich. Richtig gepackt habe ihn das Fotofieber wieder auf Reisen, diesmal mit Freunden. „In Shanghai haben wir uns mit einem erfolgreichen Instagrammer aus der Szene getroffen, dort hat sich mein Stil entwickelt.“ Seitdem immer auf der Jagd nach neuen Motiven, beschreibt er seinen Stil als futuristisch-abstrakt, immer mit Gespür für den besonderen Blickwinkel. „Ich will weg von der Realität und Gebäude auf eine Art darstellen, wie man sie sonst nicht sieht.“ Die Kunst sei es, ein und dasselbe Gebäude immer wieder neu in Szene zu setzen. Auf Instagram zählt Tobi unter dem Pseudonym „declareddifferent“ mittlerweile über 4.000 Abonnenten.
Das krasse Gegenteil zu Tobi bietet die Gruppe Moriturus BW, neue Bauten sind für sie eher uninteressant. Vielmehr zieht es sie an Orte, die schon lange niemand mehr betreten hat — sogenannte „Lost Places“. „Jeder, der aus einem kleinen Ort stammt, kennt das bestimmt, dieses eine leerstehende Geisterhaus, vor dem jeder Angst hat. Bei uns war das das Haus der Schwarzseherin, eine alte Dame, die auf ihrem Fahrrad durch die Gegend fuhr und die Nachbarskatzen vergiftete“, erzählt ein Mitglied der Gruppe. Kaum die erste Entdeckung gemacht, kam der Drang nach mehr. „Wir waren gerade volljährig, hatten frisch unseren Führerschein. Da sind wir natürlich erst mal losgezogen und haben auf eigene Faust gesucht." „Ortederangst.de“ sei damals eine der wenigen Websites gewesen, wo einer aus der Szene seine Entdeckungen öffentlich machte. Mittlerweile ist Moriturus BW schon seit 11 Jahren mit ihrer eigenen Seite bekannt.
Wenn es um die Suche nach neuen Orten geht, brauchen beide Seiten des Urban Exploring vor allem eines: Ausdauer. Über Google, Social-Media-Kanäle und die Suche auf eigene Faust gelangt Tobi an die besten Fotospots. „Meistens gehe ich einfach in die Gebäude, die von außen den besten Eindruck machen und hoffe im Innern auf mehr“, so Tobi. Ein Tipp von ihm: In einer neuen Stadt immer zuerst nach der Bibliothek suchen. Diese seien in den meisten Fällen architektonisch interessant, leicht zu begehen und für Fotos freigegeben. In Stuttgart gibt es für ihn unzählige Motive.
Auch die Gruppe von Moriturus BW setzt bei der Suche nach neuen Entdeckungen auf die Tipps von Freunden, Eigenrecherche im Internet und den Eindruck von außen. „Am besten eignet sich Google Maps. Man sieht von oben wie ein Gebäude aussieht und kann auf gut Glück mal vorbeischauen“, erklärt mir die Gruppe. Sichere Anzeichen für ein verlassenes Haus seien marode, teils eingestürzte Dächer sowie ein stark zugewuchertes Grundstück. Auch auf volle Briefkästen und abgemeldete Mülleimer sei Verlass: „Egal, wo man mittlerweile hinfährt, der Blick ist immer zur Seite gerichtet ‒ immer suchend.“ Ihr Tipp hier: Immer nach Schornsteinen Ausschau halten, diese seien für neue Fabriken heute nicht mehr üblich.
Das Fotohandwerk hat sich Tobi mit Hilfe von Tutorials aus dem Internet, Tipps von Freunden und durch Ausprobieren selbst beigebracht. „Die Leidenschaft zur Fotografie treibt mich an, das ist es, was mein Hobby ausmacht. Adrenalin und der Nervenkitzel spielen da nur eine Nebenrolle.“ Auf die Frage, wie gut die technische Ausrüstung sein muss, um so gute Bilder zu bekommen, macht er anderen Mut. „Jeder kann heutzutage gute Bilder machen, da braucht es nicht zwingend teures Equipment und die neuste Bearbeitungssoftware, gerade im Zeitalter des Handys.“ Mit ein bisschen Gespür für Komposition sei alles möglich.
„Dokumentation, kein Shooting.“
Beim Thema Fotografie sind sich Moriturus einig: „Wir inszenieren nichts. Wir haben kein Interesse an den besten Fotos und sind nicht auf der Suche nach der größten Sensation. Darum geht es nicht. Es geht darum, dein Umfeld zu entdecken, das Gefühl, das Gespür für das Alte, Verlassene um dich herum zu haben.“
Die Gruppe erzählt, wie sie die Entwicklung der Szene in den letzten Jahren erlebt hat. Im Zeitalter von Instagram gehe es nur noch um die größte Sensation, immer höher, schneller, weiter ‒ Hauptsache besser und spektakulärer als die anderen. Doch das sei nicht die ursprüngliche Idee von Urban Exploration.
Ihre Erkenntnis nach 10 Jahren Urbex: Egal, wie gut man auf eine Location aufpasst und wie sehr man sie bewahren und beschützen will, nach fünf bis acht Jahren ist die Location dahin. Entweder wird der Ort von übermütigen Jugendlichen gefunden und zerstört, er wird abgerissen oder renoviert. „Lost Places bedeuten Entwicklung, man kann den Verfall nicht aufhalten. Es ist eben nichts Statisches – leider“, bedauert ein Mitglied.
„Stuttgart ist für seine Architektur bis nach China bekannt.“
Für Tobi ist Stuttgart eine passende Anlaufstelle für Urban Explorer. „Mir kommt es gar nicht so vor, da ich hier aufgewachsen bin. Aber in Shanghai haben wir einen Architekten getroffen, der meinte, dass unsere Stadt für seine Architektur bis nach China bekannt ist“, erzählt er. Er selbst habe viele Urbexer getroffen, die extra von Brüssel, Berlin und sogar aus Chicago angereist sind, nur um in Stuttgart Fotos von den Bauwerken zu machen.
Auch Moriturus BW wurde in der Region fündig, doch damals mehr als heute. „Früher gab es mehr leerstehende Häuser, mindestens eins pro Dorf. Heute ist der Wohnraum in Stuttgart viel zu teuer, um altes stehen zu lassen – das ist sehr schade“, erzählt mir die Gruppe. Für Moriturus ist die Region um Stuttgart immer mehr „weggestorben“, je größer die Stadt wurde. „Es ist schade, dass es diese Orte so selten gibt. Sie gehören zu einer Stadt dazu und bieten kreativen Raum für die Jugend.“ Gerade in Stuttgart gäbe es laut Moriturus so gut wie keine kreativen Freiflächen mehr. „Nicht die alten Gebäude sind es, die tot sind. Wenn eine Stadt so perfekt und lückenlos zugebaut ist, das lässt eine Stadt sterben.“
Beide Seiten der Szene haben eins gemeinsam: Sie bewegen sich in einer rechtlichen Grauzone. Schaut man sich die Aktivität allein in Stuttgart an, ist es umso erstaunlicher, dass die Polizei in Stuttgart keine Fälle dieser Art zu verzeichnen hat. „Viele meiner Locations sind schwer zugänglich und da fragen sich die Securities in den Gebäuden schon, was du da machst ‒ du wirst dann halt rausgeschickt“, erzählt Tobi.
Legale Alternativen:
1. Hotel Waldlust – Freudenstadt
2. Historische Schutzbauten – Stuttgart
Die Gruppe Moriturus BW erzählt mir eine ähnliche Geschichte: „Nein, erwischt worden sind wir nie. Da kam höchstens mal ein ‚Hey! Was macht ihr da?‘ und wenn du dann verschwindest, ist es meistens auch okay. Wir sind ja keine Diebe oder Randalierer." In der Szene gilt die Devise: Einfach schnell sein und unbemerkt bleiben, dann sei man auf der sicheren Seite.
„Take nothing but pictures.
Leave Nothing but footprints.“