“Fair means and respect for the objective.”
Die Leiden des jungen Bergsteigers
Der Cerro Torre gilt in Expertenkreisen aufgrund seiner steilen Wände als einer der schönsten, aber auch als einer der schwierigsten Berge weltweit. Cesare Maestri war am 2. Dezember 1970 der Erste, der ihn erklimmen konnte. Mit einem Kompressor befestigte er 350 Bohrhaken in der Felswand, die ihm und nachfolgenden Bergsteigern den Aufstieg erleichterten. Am 16. Januar 2012 gelang dem damals 22 jährigen Amerikaner Hayden Kennedy und seinem Seilschaftskollegen Jason Kruk ebenfalls der Aufstieg über die vorgefertigte sogenannte “Kompressor-Route”. Nach eigenen Angaben sogar ohne die Bohrhaken zu benutzen. Und nicht nur das, Kennedy riss sogar mehr als 100 Haken aus der Felswand, um jedem Bergsteiger die gleichen Voraussetzungen zu geben. Um dieses Statement zu untermauern kletterte der Österreicher David Lama nur wenige Tage später ebenfalls weitestgehend ohne Bohrhaken auf den Cerro Torre. Eine Revolution der jungen Extremalpinisten bahnte sich an. Beiden gelang es früh in ihren 20ern mit dem Piolet d’Or ausgezeichnet zu werden. Doch auch beide verstarben noch vor ihrem 30. Lebensjahr. Eine Revolution blieb also aus.
Mit dem Piolet d’Or (zu deutsch: Goldener Eispickel) wurde 1991 eine Auszeichnung ins Leben gerufen, um Bergsteiger und Kletterer jährlich für besondere Leistungen im extremen Alpinsport zu ehren. Es ist die bedeutendste Auszeichnung im Kletter- und Bergsport, die allerdings mit den Jahren immer mehr in die Kritik geriet. 2007 sogar so sehr, dass sie 2008 komplett abgesagt wurde. Das neue Ziel des Awards ist es seitdem, die Abenteuerlust, die Tapferkeit und den Erforschungs-Sinn zu feiern und zu würdigen.
Auch nach fast 30 Jahren der Preisverleihung werden jedes Jahr neue Routen und Berge bestiegen. Ein Grund dafür sind unter anderem die neuen technischen Möglichkeiten, die das 21. Jahrhundert mit sich bringt. Nach der Auffassung des Chefredakteurs der Fachzeitschrift “Climbing”, machen, trotz besserer Ausrüstung, Respekt und Fairness den Bergsport aus.
Ein Kletterer, der genau diese Meinung vertrat, war der Amerikaner Hayden Kennedy. Er war mit Anfang 20 das Gesicht der neuen Generation von Bergsteigern. Viele sagten voraus, dass ihm die Zukunft im extremen Klettersport gehöre. Und nahezu die ganze Kletterwelt kannte ihn, nachdem er die Bolzen am Cerro Torre absichtlich demontierte.
Im Alter von 23 Jahren, erhielt er seinen ersten Piolet d’Or. Seinen zweiten Award gewann er 2016, nur 3 Jahre später, gemeinsam mit Marko Prezelj für die Erstbegehung der Ostwand des Cerro Kishtwar im Himalaya. Der Sechstausender wurde zuvor erst zweimal bestiegen. Für seinen slowenischen Seilschaftskollegen Marko Prezelj war es bereits der vierte Piolet d’Or. Damit ist er, gemeinsam mit dem Briten Paul Ramsden, der Bergsteiger mit den meisten Siegen. Unter anderem wurde er 1992 als erster Bergsteiger überhaupt ausgezeichnet. Es folgten weitere Siege in den Jahren 2007, 2015 und 2016.
Die Seilschaft um Marko Prezelj und Hayden Kennedy war der Beginn einer Freundschaft, die weit über die Verbindung im Netzwerk hinausging. Die Beiden waren sehr verschieden – sie kamen aus unterschiedlichen Ländern, sprachen unterschiedliche Sprachen und hatten einen Altersunterschied von 25 Jahren. Als Prezelj mit dem Bergsteigen begann, war Kennedy gerade einmal fünf Jahre alt. Schon von Anfang an kletterte Prezelj mit Bergsteigern aus verschiedenen Nationen, damals war die Kontaktaufnahme noch eine Herausforderung. Seiner Meinung nach ist vor allem die junge Generation an Bergsteigern immer besser vernetzt, anspruchsvolle Aufstiege forderten mehr internationale Vernetzung, so Prezelj. Mittlerweile steht er über Social Media auch mit einer breiten Fanbase in Kontakt und liebt es, dort seine beeindruckenden Bilder zu teilen. Sein Kletterpartner Kennedy hingegen verzichtete, trotz seines großen Erfolges, komplett auf Social Media. Er hatte lange Zeit nur ein Klapphandy und weigerte sich, bei Online-Challenges unter Bergsteigern mitzumachen. Doch die Leidenschaft beider für das Bergsteigen war größer als ihre Unterschiede. Mit Prezelj als Mentor lernte Kennedy die Sportart neu kennen und begann auch eine Leidenschaft für Fotografie zu entwickeln. Kennedy schickte seine neuen Fotos an Prezelj, der sich über seine Fortschritte freute. Prezelj schrieb einmal über seine Erlebnisse mit Kennedy: “When we were both in our passionate moods, Hayden would call me “fucking photographer”. The way he said that, created positive meaning, a sort of mutual understanding.”
Hayden Kennedy lebte nicht nur für den Extrembergsport, sondern auch für seine Freundin Inge Perkins, die ebenfalls leidenschaftlich kletterte. Beziehungen im Alpinismus sind eine Seltenheit und halten aufgrund des hohen Risikos des Extremsports meistens nicht besonders lang. Bei einer gemeinsamen Skitour 2017 am Mount Imp verstarb Inge Perkins im Alter von 23 Jahren. Besonders tragisch: Hayden Kennedy war kein Freund des technischen Fortschritts und trotzdem trugen beide GPS-Geräte mit sich, die jedoch nicht eingeschaltet waren. Eine Lawine erwischte Perkins und Kennedy. Er konnte sich freischaufeln und suchte drei Stunden vergeblich nach ihr. Nur einen Tag nach dem Tod seiner Freundin, nahm sich Hayden Kennedy durch eine Überdosis an Tabletten und Alkohol das Leben. Nur zwei Wochen zuvor sagte Kennedy in einem Interview: Er erkenne die traurige Realität des Sports und wisse nicht damit umzugehen. Der Extremalpinismus sei Fluch und Segen zugleich.
“I’ve watched too many friends go to the mountains only to never return, I’ve realized something painful. It’s not just the memorable summits and crux moves that are fleeting. Friends and climbing partners are fleeting, too.”
Das Netzwerk der Gewinner des Piolet d’Or gibt nur einen Überblick über einen Teil der Weltspitze des Extremalpinismus. Ein Netzwerk, das aus Siegen, Seilschaften und Toden besteht. Es zeigt aber nicht auf, wie die Akteure zueinander standen. Genau deshalb wollten wir diesen Artikel dem Teil der Netzwerkanalyse nutzen, die über die visuelle Darstellung des Erfolgs hinausgeht. Für die Sportler ist der Extremalpinismus eine Lebensaufgabe, die mit einem enorm hohen Risiko verbunden ist. Für Außenstehende wirkt das fast schon surreal und unmenschlich. Der Piolet d’Or zeichnet Sportler auf einem hohen Niveau aus. Und zwar so hoch, dass jeder kleinste Fehler zum Tod führen kann.