„Ich liebe an meinem Sohn, wie er Laute von sich gibt, wenn ihm etwas nicht passt, oder wie er meine Hand festhält. Ich liebe an meinem Sohn, wie er einfach da liegt. Entspannt. Glücklich. Ich liebe meinen Sohn abgöttisch und solange er sich entscheidet, hier zu bleiben, bleiben wir auch bei ihm.“
Bewegungslos liegt Jan in seinem Hospiz-Bett. Der Körper seitlich, sein Mund leicht geöffnet, die Augen noch geschlossen. Er schläft, lässt die Welt an sich vorbeiziehen, und auch wenn er aufwacht, zieht die Welt weiter. Mitochondriopathie. So heißt die Krankheit, die Jan nun schon seit neun Jahren aktiv begleitet. Mitochondriopathie ist eine genetische Krankheit, bei der die Mitochondrien, also die Kraftwerke unserer Zellen, nicht richtig funktionieren. Dadurch kann Jans Körper nicht so viel Energie produzieren, wie er eigentlich braucht. Also gerade so genug Energie für Herz und Lunge, aber nicht ausreichend für das Gehirn und damit für einige wichtige Funktionen, die normalerweise der Kopf steuert. Nur sein Gehör ist nicht von den Auswirkungen der Energieknappheit betroffen.
In sanfter Bewegung streicht eine Hand liebevoll über Jans Wange. „So müde bist du heute?“ – Keine Antwort, dafür dumpfe Trommeln, sanfte Flötenklänge und beruhigende Gesänge, die die Stille durchbrechen. „Meditationsmusik hat mein Sohn schon immer gemocht“, erklärt Annette.
„Schon immer.“ Das bedeutet, schon bevor das Leben der kleinen Familie von einem Moment auf den anderen komplett aus den Fugen geriet. Damals, vor neun Jahren, als noch alles „gut“ war. Als Jan einhändig auf seinem Bobbycar durchs Wohnzimmer bretterte und dabei an jeder Wand kleine Schrammen hinterließ. Als sorgenlose Stunden mit Freunden und lange Autofahrten in den Süden noch selbstverständlich zum Leben dazugehörten.
„Und dann kam die Entgleisung“, erzählt Annette. Und damit veränderte sich alles. Es begann mit einem einfachen Infekt, der sich auf Jans Lunge setzte und von dem er sich nie erholte. Da war er eineinhalb Jahre alt. Zu dieser Zeit erfuhren Jans Eltern auch von der Krankheit. Nur ein paar Monate später brach alles zusammen. Ein zweiter Infekt mit starkem Fieber. Jan hörte auf zu essen. Er hörte auf zu sprechen. Er verlor sein Augenlicht. Er musste an Atemschläuche angeschlossen werden. Sein gesamter Energiehaushalt stürzte ein und kein Arzt konnte den Einsturz aufhalten. Es war ein lauter Einsturz und es war ein Wunder, dass Jan ihn überlebte. „Und da war ich dann an dem Punkt, dass ich zu meinem Sohn gesagt habe: Du musst dich entscheiden. Entweder du gehst, oder du bleibst. Und wenn du bleibst, dann sind wir für dich da.“ Sie warteten eineinhalb Tage lang. Eineinhalb Tage begleitet von dumpfen Trommeln, sanften Flötenklängen, beruhigenden Gesängen, aber vor allem von dieser lähmenden Ungewissheit. Und dann entschied er sich zu bleiben, lernte wieder zu atmen.
Voll und ganz da
Langsam öffnen sich Jans Augen. Annette betrachtet ihn aufmerksam, ein warmes Lächeln auf den Lippen. „Und seitdem ist er einfach da.“ Ihr Mann schmunzelt: „So ein bisschen da eben.“ Annette schaut ihn an: „Schon voll und ganz da.“ Sie beginnt, Jans Füße zärtlich zu massieren. Niemand weiß, wie lange Jan noch „voll und ganz“ oder auch nur „so ein bisschen“ da sein wird. „Die Ärzte haben damals gesagt, er hätte nur noch wenige Tage.“ Aus Tagen wurden Wochen, aus Wochen Monate und mittlerweile ist Jan schon elf Jahre alt und liegt immer noch im Bett. Der Körper seitlich, sein Mund leicht geöffnet, die Augen nur halb auf.
Mitochondriopathie ist unheilbar. Bis heute kann Jan nicht sehen, nicht reden, sich nicht bewegen. Er wird vermutlich noch sein restliches Leben mit Epilepsieanfällen und Verkrampfungen am ganzen Körper zu kämpfen haben. Die werden durch Energieengpässe im Gehirn ausgelöst. Außerdem ist er sehr empfindlich gegenüber Erkrankungen, mit Fieber als Symptom. Jede kleinste Infektion könnte zu einer neuen Entgleisung führen, die für Jan lebensgefährlich ist.
Aber Jan entschied sich dazu, zu bleiben, und seine Eltern entschieden sich dazu, für ihn da zu sein. Immer. 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Annette kündigte ihren Job, gab sich für ihren Sohn auf, existierte nur noch für ihn. Ein Film, in dem Jan zum Hauptcharakter wurde und alle um ihn herum zu Nebendarstellern. In diesem Film wurden sorgenlose Stunden mit Freunden immer seltener und lange Autofahrten mit der ganzen Familie eine Unvorstellbarkeit. „Ich konnte nicht mehr“, erklärt Annette. Und weil sie nicht mehr konnte, entschied sie sich gemeinsam mit ihrem Mann für das Kinderhospiz. „Am Anfang wollte ich das eigentlich gar nicht, aber nach einiger Zeit merkte ich, wie gut es mir tat.“
Mal wieder aufatmen
Ein Kinderhospiz ist nicht das gleiche wie ein Hospiz für Erwachsene. Viele Menschen denken, Kinder werden in ein Kinderhospiz gebracht, um dort zu sterben. Aber es geht um viel mehr als das, erklärt Anne Bartels, eine Mitarbeiterin des Kinderhospizes. Es geht darum, Familien nach lauten Einstürzen wieder Ruhe zu schenken, sie aufzufangen. Ihre Energie neu zu laden. Ein Kinderhospiz muss nicht der letzte Ort für das Kind sein. Viele Kinder mit lebensverkürzenden Krankheiten sterben zu einem noch ungewissen Zeitpunkt. Kinderhospize sind nicht nur zu diesem ungewissen Zeitpunkt für die Familie da, sondern schon lange davor. Jan und seine Familie sind nun schon seit über fünf Jahren Gäste des Kinderhospizes. Nicht 365 Tage im Jahr. Nur immer mal wieder zwei Wochen lang. In dieser Zeit wird die Familie von verschiedenen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in der Pflege, aber auch emotional unterstützt. Annette und ihr Mann sind dann nicht mehr allein. „Dann kann ich wieder aufatmen" Annette lächelt. "Mit meiner Tochter shoppen gehen, ohne auf die Uhr schauen zu müssen, einfach in Ruhe zu Mittag essen, eine ganze Nacht durchschlafen. Da lernt man wieder, was ‚leben‘ bedeutet.“
Als Nebendarstellerin kann der eigene Alltag nämlich schnell untergehen. „Einen neuen Job habe ich seit der Entgleisung nicht wieder bekommen“, erklärt Annette. „Ich habe einen guten Lebenslauf, gute Referenzen, aber sobald ich mein schwerkrankes Kind erwähne, bin ich raus. Für die Gesellschaft spiele ich keine Rolle mehr. Ich werde übersehen.“ Dabei leistet sie doch eigentlich so viel. 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr.
Annette beginnt, Jans Körper zu massieren.
„Ich liebe mein Kind abgöttisch. Es ist eine innige Liebe. Absolut auf Augenhöhe. Und weil ich ihn so sehr liebe, schaffe ich es, stark zu bleiben.“
Wenn Menschen aus Annettes Umfeld von Jans Krankheit erfahren, wissen viele gar nicht, wie sie reagieren sollen. Sie überspielen es einfach, als hätten sie es gar nicht gehört. Vielleicht wollen sie es auch nicht hören. Annette kann ihr Schicksal nicht überspielen. Jan wird sterben. Annette weiß das und sie liebt ihr Kind trotzdem. Sie liebt ihn, wenn er Laute von sich gibt, weil ihm etwas nicht passt, oder wenn er ihre Hand festhält. Sie liebt ihn, wenn er einfach daliegt. So wie eine Mutter ihr Kind eben liebt. Bedingungslos.
Und so begann sie vor einigen Monaten in der Kreativwerkstatt des Hospiz, jeden Zentimeter dieses geliebten Körpers aus Ton zu formen. Von den Füßen zu den Beinen, dann die Hüfte, der Bauch, die Schultern, sein Gesicht. Der Körper seitlich, eine Krone auf dem Kopf.
„Das Königskinderprojekt entstand vor einigen Monaten ganz zufällig in unserer Kreativwerkstatt“, erklärt Anne Bartels. Die Kreativwerkstatt ist eines der Angebote zur Begleitung vor und nach dem Verlust eines geliebten Kindes. Hier können Eltern und Familien miteinander in Kontakt kommen, sich austauschen, einander Verständnis schenken. Dabei setzen sie sich gemeinsam auf kreative Weise mit ihren Ängsten, Sorgen oder Hoffnungen auseinander. Hier wurden die Königskinder geboren. 35 Stück und eines davon Jan. Kleine Figuren, in Rollstühlen, in Tanzbewegungen oder seitlich liegend. Jedes unterschiedlich, aber alle mit goldener Krone auf dem Kopf. 35 Königskinder, die geliebt werden. „Nur durch dich habe ich die Tiefe meines Lebens kennengelernt“ oder „Du hast mir gezeigt, was für mich wirklich wichtig ist“ schreiben die Eltern in kleinen Texten zu ihren Tonfiguren.
Jan liegt immer noch in seinem Hospizbett. Der Körper seitlich, sein Mund leicht geöffnet, die Augen nie richtig auf. Wie lange Jan noch dort liegen wird, kann man zu keinem Zeitpunkt mit Sicherheit sagen. „Aber er ist glücklich.“ Annette lächelt. „Und ich wünsche mir, dass er noch dableibt, solange er glücklich ist. Aber ich wünsche mir auch, dass er weiß, dass er gehen darf, wenn er nicht mehr da sein will. Einfach so, ohne viel Leid.“
Annette will keine Nebendarstellerin mehr sein. Sie will, dass die Leute hinschauen, zuhören. Jetzt. Bevor es zu spät ist. Im Kinderhospiz ist der Tod kein Tabu. Ganz im Gegenteil, er gehört ganz selbstverständlich zum Leben dazu. Es ist ein Ort, an dem Kinder sterben. Aber es ist auch ein Ort, an dem Kinder spielen und lachen. Ein Ort, an dem letzte Wünsche erfüllt werden. Ein Ort, an dem Eltern für kurze Momente wieder Hauptcharaktere sein dürfen und ein Ort, der daran erinnert, dass jedes Kind, jeder Mensch eine Krone auf dem Kopf trägt, egal ob gesund oder nicht.