„Art is about the time that is shared. The artist doesn´t need skills; being an artist is an attitude“
Die extreme Seite der Kunst
In einem geräumigen Saal sitzen 47 Personen, jeder an einem eigenen Tisch. Vor jedem Teilnehmer befinden sich ein Teller mit drei Rosinen, eine Serviette, ein Glas Wasser, eine Gabel und ein Messer. Die Anwesenden beschäftigen sich seit 22 Minuten mit den drei Rosinen auf ihren Tellern, jeder in seiner eigenen Welt. Später am Abend wird das Abendessen um eine Suppe, eine Kartoffel und ein kleines Glas Joghurt erweitert. Die gemeinsame Performance wird insgesamt drei Stunden in Anspruch nehmen. Die beschriebene Performance „Mahl-Zeit“ von Daniel Beerstecher war zwar extrem langsam, aber weit weniger extrem als manch andere Performances.
Merkmale von Performance Kunst
Viele Menschen haben unterschiedliche Definitionen von Performance Kunst und einige können sich vermutlich nur sehr wenig oder nichts darunter vorstellen. Eine allgemeine oder offizielle Definition der Performance Kunst gibt es nicht, da der Begriff sehr vielseitig ist. Sogar die Künstler*innen sind sich bei diesem Punkt uneinig. Jedoch gibt es einige Merkmale, die Performance Kunst charakterisieren. Diese beinhalten zum Beispiel, dass Künstler*innen oft den eignen Körper als Medium nutzen und Performances zu jeder Zeit an jedem Ort stattfinden lassen können. Meistens wird diese Kunstform in der Öffentlichkeit praktiziert, da die Interaktion mit Passant*innen oder Besucher*innen erwünscht sei und oft auch als Teil der Performance genutzt wird. Häufig werden kulturelle, politische oder soziale Themen aufgegriffen bzw. künstlerisch dargestellt. Dadurch werde Performance Kunst oft als Aktivismus verstanden und praktiziert. Die Projekte werden oft durch Fotos oder Videos festgehalten und in Ausstellungen ausgestellt.
Die Geschichte der Performance Kunst geht weit zurück
1910 wurde die Performance zum ersten Mal als Kunst bezeichnet. Eine Gruppe Künstler*innen, die sich selbst die Futuristen nannten, benutzen Performance Kunst, um die Industrialisierung und die dadurch kommende Schnelligkeit und Lautstärke der Gesellschaft zu kritisieren. Vor allem während und nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Kunstform vor allem genutzt, um das erlebte Erschrecken künstlerisch darzustellen und die als unnötig wahrgenommene Gewalt zu kritisieren. Performance wurde schon von früh an auch als Form des Aktivismus genutzt. In den 60ern und 70ern begannen einige Künstler*innen Performance Kunst zu nutzen, um Sexismus und Rassismus zu hinterfragen. 1974 reiste Joseph Beuys nach New York und verbrachte eingesperrt drei Tage und drei Nächte mit einem Kojoten. Laut Beuys sind Kojoten für die Ureinwohner heilige Tiere, für den „weißen Mann“ nur unzähmbare schmutzige Wesen, die abgeschossen werden können. Er kritisierte durch dieses Projekt den Umgang des „weißen Mannes“ mit den Ureinwohnern und nutzte so Performance Kunst, um Kritik an der Gesellschaft zu äußern.
Retraumatisierungen durch extreme Performances
Sandra Anklam ist Theaterpädagogin und Regisseurin am Schauspielhaus Bochum. „Die Performance Kunst erweitert das Spektrum um ein Vielfaches des Theaters und ich mag auch das Überschreiten der Rolle, man tut nicht mehr so als ob man handelt, sondern handelt wirklich“. Sie beobachtet, dass Performances immer politischer werden, findet aber nicht, dass der Kunstaspekt zu kurz kommt, da "Kunst immer einen sozialen Kontext hat", so Anklam
Durch Performances werden gesellschaftliche Kritik und andere Botschaften nach wie vor häufig auf extreme Weise zum Ausdruck gebracht. Dabei sind Praktiken, die Nacktheit, Sexualität, Blut oder Verletzungen darstellen, nicht untypisch. Sandra Anklam ist der Meinung, dass Kunst mitunter zu extrem und grenzüberschreitend ist, aber gleichzeitig Grenzen überschreiten will. Doch manchmal verstehe sie nicht, warum diese extreme Darstellungsform gebraucht werden soll und es ginge oft nur noch darum extremer als die anderen Künstler*innen zu sein. In manchen Fällen könne eine solche Performance bei Menschen eine Retraumatisierung auslösen. Gleichzeitig ist sie der Meinung, bei gewissen Themen sei eine gewisse Extreme auch angemessen und nötig. Dafür sieht Anklam eine Lösung in Trigger Warnungen. Jedoch können diese Trigger Warnungen die Besucher*innen framen und ihre Wahrnehmung beeinflussen.
Kunst als Aktivismus
Eine ähnliche Meinung bezüglich der Trigger Warnungen teilt Verena Stenke. Sie ist eine deutsche Performancekünstlerin und Filmemacherin, die gemeinsam mit ihrem Partner Andrea Pagnes performt und produziert. Auch sie ist Fan der Trigger Warnungen und sogenannten „safe spaces“ also Räume, in die sich die Zuschauer*innen zurückziehen können, wenn ihnen die Performance zu viel wird. Für Verena Stenke und ihren Mann waren die anderen Kunstfelder zu eng und sie genieße die Unabhängigkeit und Freiheit der Performance Kunst. Sie erklärt, es ginge bei der Performance Kunst nicht darum, die Performance direkt zu verstehen und zu wissen, was damit ausgedrückt werden soll, sondern es ginge darum, die Performance auf sich wirken zu lassen und zu verstehen, warum diese Performance bei einem selbst bestimmte Gefühle auslöse und diese Gefühle zu reflektieren und zu hinterfragen. „Das Letzte, was du in der Performance Kunst brauchst, ist ein moralischer Finger“, so Stenke. Kunst sei frei und müsse frei bleiben. Kunst sei Aktivismus, und Aktivismus sei nicht immer sanft. Performance Kunst helfe uns, in Abgründe zu schauen und dadurch ehrlicher zu sein.
Auch die Zuschauer*innen haben Verantwortung
Es lässt sich sagen, dass sich die Meinungen für die Berechtigung von extremen Inhalten spalten. Zusammengefasst sind sich die meisten Künstler*innen beifolgenden Punkten einig: Die Kunst muss frei bleiben und da durch Performance Kunst oft kritisiert wird, ist bei gewissen Themen eine bestimmte Radikalität nötig. Jedoch muss auf seine Mitmenschen geachtet werden und sich bewusst werden, dass extreme Performances bei den Zuschauer*innen viel auslösen kann. Performance Kunst bleibt also eine Kunstform, die nicht nur Diskussionen anregt, sondern auch die Zuschauer*innen in ihrem Verständnis und ihrer Akzeptanz herausfordert.
Kunstempfehlungen für euch von Verena Stenke und mir:
Etwas lustiges:
- Christian Falsnaes(Dänemark) "Influence"
Klassiker:
- Yoko Ono (Japan) "cut piece"
- Marina Abramović (Serbien) "the artist is present"
Aktuelles:
- Cassils (Kanada) "Up To and Including Their Limits"
- Simon Pfeffel (Deutschland) "100DAYSOFPERFORMANCES"
- Tania Bruguera (Kuba) Tatlin's Whisper #5