Subkultur

Die Atelier-Lotterie Stuttgarts

Annie Krüger lebt schon ihr ganzes Leben lang in Stuttgart und arbeitet als freie Künstlerin.
29. Juni 2023
„Jackpot – Sie haben ein Atelier!“ Annie Krüger hat das große Los gezogen und einen bezahlbaren Raum für ihre Kunst gefunden. Andere haben weniger Glück.

Im Treppenflur riecht es nach Motoröl und Zigarettenrauch. „Annie Krüger“ steht in schwarzen Klebebuchstaben an der weißen, massiven Metalltür im ersten Stock. An den Seiten blättert die Schrift bereits ab. Mit ihrem Hund an der Leine und ihrem Sohn im Schlepptau kommt eine Frau mittleren Alters mit langen blonden Haaren und klingelnden Schlüsseln die Treppe hoch. Seit zwölf Jahren ist der geschätzt 15 Quadratmeter große, weißgestrichene Raum hinter der Tür Annies eigenes Atelier. Früher war hier eine Ledernäherei. Im Erdgeschoss befindet sich ein Autohändler. Es gibt eine kleine Küchenzeile und zwei große Tische. Mitten im Raum steht ein Wagen mit Farbcontainern und Pinseln, an den Wänden hängen Annies Kunstwerke. Durch die drei Fenster sieht man auf die Fildern von Stuttgart-Möhringen. Als Stuttgarter Künstlerin ein eigenes Atelier wie dieses zu besitzen, ist etwas Besonderes. „Ich hatte immer ganz großes Glück und war nie ohne Atelier“, erzählt Annie. Vielen von ihren Kolleg*innen aus der Stuttgarter Künstlerszene geht es anders. 

In diesem Raum kann Annie ihrer Kreativität freien Lauf lassen.
Zusätzlich zur Ateliermiete fallen regelmäßig Materialkosten für Annies Kunstwerke an.
Nach dem Abitur überlegt Annie, in die Richtung Tiermedizin oder Landwirtschaft zu studieren, doch dann merkt sie, dass sie nicht ohne die Kunst leben möchte.

Das Problem mit dem Geld

Nach ihrem Studium teilt Annie sich ein Atelier mit sechs anderen Künstler*innen. Neben der freien Kunst gibt sie Führungen in einem Museum und arbeitet in anderen kleineren Jobs. „Man muss immer irgendwie noch nebenher Geld verdienen“, meint Annie. Für die Ateliermiete zusätzlich zur eigenen Wohnungsmiete und Lebensunterhalt aufzukommen, ist für viele Kunstschaffende eine große Herausforderung. Als Leiter der Kunststiftung Baden-Württemberg kennt Bernd Georg Milla das Problem gut: „Es gibt einfach viel zu wenig Ateliers in Stuttgart, die bezahlbar sind.“ Er weist darauf hin, dass viele Kunstschaffende neben einem Atelier auch einen Lagerraum benötigen würden, ihre eigenen Arbeitsmaterialien einkaufen würden und dass diese Kosten allein durch das Verkaufen der Kunstwerke nicht gedeckt werden könnten.

Ein wichtiger Schritt für die Kunstszene Stuttgarts war deswegen die Einführung der „Ausstellungsgrundvergütung“. Künstler*innen, die in einer städtisch geförderten Institution ausstellen, werden seit 2023 nach einer Pauschale bezahlt: Wenn es sich um eine Einzelausstellung handelt, bekommen alle Beteiligten 1500 Euro. Desto mehr Künstler*innen mitausstellen, umso kleiner wird dieser Betrag. Trotzdem gebe es Kunstschaffende, die Stuttgart verlassen, weil sie sich beispielsweise in Leipzig die Arbeitsräume besser leisten könnten, erzählt Milla. Berlin und Köln sind auch sehr attraktiv, jedoch nicht, weil dort die Ateliers günstiger sind, sondern weil die Kunstszene größer und aktiver ist.

„Es gibt einfach viel zu wenig Ateliers in Stuttgart, die bezahlbar sind.“

Bernd Georg Milla, Geschäftsführer Kunststiftung Baden-Württemberg

Wegziehen, weil man sich ein Atelier nicht finanzieren kann? Das hält Jan Stohr von der städtischen Atelierförderung nicht für nötig. Er verwaltet 24 städtische Ateliers, für die sich Kunstschaffende mit Hauptwohnsitz in Stuttgart zweimal im Jahr bewerben können. Außerdem vergibt er Mietzuschüsse. Wenn Künstler*innen ein Atelier auf dem privaten Markt finden, können sie eine Förderung von 50 Prozent der Kaltmiete beantragen. Er erklärt, er könne vielen Bedürfnissen von Künstler*innen begegnen und würde die aktuelle Lage nicht als Notsituation beschreiben.

„Das ist wirklich auch eine ganz, ganz tolle Sache“, sagt Annie. Sie selbst hat so einen Mietzuschuss vor Jahren schon einmal in Anspruch genommen. Durch einen Newsletter der Kunststiftung hatte sie von der Option der Atelierförderung gelesen und sich beworben. „Ich hatte mich davor auch schon mal beworben, man kriegt das dann vielleicht nicht sofort und muss sich nochmal bewerben – aber das lohnt sich.“ Da die Miete bei ihrem aktuellen Atelier verhältnismäßig günstig ausfällt, hat sie kein Problem, diese auch ohne die Förderung zu bezahlen. Würde sie sich jetzt nochmal auf die Suche nach neuen Räumlichkeiten machen, würde sie wahrscheinlich das Doppelte bezahlen müssen. Um auch unter schwierigen Bedingungen in Stuttgart ein Atelier zu finden, rät Annie anderen Kunstschaffenden, stets im Austausch mit Kolleg*innen zu stehen und vor allem Eigeninitiative zu ergreifen. „Ich denke, man muss auch selbst die Augen offenhalten. Das hier war ja nie als Atelier von irgendjemand ausgeschrieben.“

Mehr Raum für die Kunst

Für Kunstschaffende in Stuttgart ist es außerdem nicht einfach, überhaupt Räumlichkeiten zu finden, die sich anbieten. Jedoch gibt es in der Stadt durch Institutionen wie die Kunststiftung oder den Kunstverein Baden-Württemberg mehrere Atelierhäuser. Eins davon liegt in der Gerokstraße 37. Lange Steintreppen führen durch den großen Garten zur Eingangstür. Hohe Decken und weite Räume. Fenster mit einer Aussicht über ganz Stuttgart und den Fernsehturm. Insgesamt fünf Ateliers befinden sich in der „Villa“ der Kunststiftung. Um die Chance zu haben, in einem der Ateliers für zwei Jahre arbeiten zu dürfen, muss man sich gegen knapp 300 Mitbewerbende durchsetzen und zu den 20 auserwählten Stipendiat*innen im Jahr gehören.

Die Kunststiftung Baden-Württemberg wurde 1977 gegründet. Ein Jahr später bezogen Künstler*innen die Villa in der Gerokstraße 37 im Stuttgarter Osten.
In dem Atelier im obersten Stock wohnt aktuell eine Fotografin aus Barcelona, die an einem Austauschprogramm teilnimmt.
Die Aussicht aus den Fenstern über die Stadt macht das Atelier einzigartig.

Auch der Kunstverein Wagenhalle hat es sich zum Ziel gesetzt, mehr Raum für die Kunstszene zu schaffen. Auf dem Gebiet der Stuttgarter Wagenhallen haben sie eine „Container-City“ aufgebaut. Über 100 Container werden hier von den verschiedensten Künstler*innen als Ateliers, Lagerräume und Proberäume genutzt. Ein großer Teil davon muss jetzt weichen, weil die Fläche für den Bau der Oper und Wohnungen genutzt wird. „Das ist eigentlich ein Unding“, sagt Annie zu der Situation. „Ich weiß von vielen Leuten, die wieder raus müssen und die Not haben, jetzt wieder was zu finden. Es ist schade, dass die Stadt da die Oper wichtiger gewichtet.“ Die Künstlerin wünscht sich, dass ihr Beruf öfter ernst genommen wird und die Anliegen der Kunstszene Stuttgarts mehr Gehör in der öffentlichen Debatte finden.