„Die, die dich belästigen, denken, dass es okay ist. Dass du dich schämst und es passieren lässt."
Inhaltswarnung für Leser*innen: Dieser Artikel kann Themen enthalten, die als sensibel empfunden werden könnten, darunter Gewalt, Missbrauch, Diskriminierung und Vorurteile. Bitte sei dir dessen bewusst und lies den Artikel entsprechend deiner persönlichen Sensibilität. Unsere Absicht ist es, respektvoll und einfühlsam zu berichten, um die Würde der betroffenen Personen zu wahren.
Die Türen der S-Bahn öffnen sich mit einem metallischen Zischen. Ein kalter Luftzug fegt über den Bahnsteig, während die ersten Fahrgäste aussteigen. Ein Meer aus Farben und Stoffen strömt aus der S-Bahn, die Haltestelle ist überfüllt mit den verschiedensten Cosplayern. Eine lange Schlange formiert sich zur ComicCon Stuttgart, zieht fast wie eine Prozession durch den Flughafen – vom Bahnsteig die Rolltreppen hoch, an den Terminals vorbei, hin zum Messegelände. Trotz der Eiseskälte, trotz der Wartezeit: Die Vorfreude liegt in der Luft. Lautes Lachen, das Klacken von Absätzen und aufgeregtes Gemurmel erfüllen die triste Flughafenatmosphäre.
Inmitten der Menschenmassen ist auch Saki*, die in ihrer schwarzen N.E.E.T-Uniform heute trotzdem heraussticht. Orientiert am traditionellen, japanischen Homeguard-Militär-Style ist ihr Erscheinungsbild sehr eindrucksvoll. Ihr Gesicht ist von einem „Buff" bedeckt. Zwischen ihrem Helm mit flauschigen Ohren schauen nur ihre Augen hervor. Ihr Körper ist bis auf ihre Finger komplett bedeckt. Rollkragenpulli, Faltenrock, Herzchenstrumpfhose, Schoner, Handschuhe und taktische Weste. An dieser stecken einige Sakura-Blumen, Patches, Lollies und Reagenzgläser mit rosa Glitzer. Immer wieder wird sie von anderen Besucher*innen angesehen, mal neugierig, mal anerkennend – doch Saki weiß, dass es nicht immer bei harmlosen Blicken bleibt.
Gerade in einem auffälligen Cosplay ist Aufmerksamkeit unvermeidlich. Viele genießen den Austausch mit anderen Fans, das Fotografieren und Staunen. Für Frauen im Cosplay gibt es allerdings eine Grenze, die oft überschritten wird – unangemessene Kommentare, aufdringliche Anmachen oder respektlose Fragen. Sexuelle Belästigung hat viele Formen. Saki hat bereits einige negative Erlebnisse gemacht, insbesondere wenn sie alleine unterwegs war. Doch dieses Jahr fühlt sie sich sicherer. „Sobald ich mit einem Mann unterwegs bin, werde ich kaum auf diese Art angesprochen.“ Neben ihr läuft ihr Freund, ebenfalls in N.E.E.T.-Uniform. Zwischen den Hunderten von Menschen, gibt ihr seine Präsenz ein Gefühl von Schutz.
Sexuelle Belästigung beschreibt unerwünschte Handlungen oder Bemerkungen mit sexuellem Hintergrund, die eine andere Person erniedrigen oder ihr unangenehm sind. Dazu gehören unter anderem:
- anzügliche Bemerkungen oder Blicke
- unerwünschte Berührungen
- sexuelle Witze, Gesten oder Nachrichten
Laut §184i StGB ist sexuelle Belästigung nur dann strafbar, wenn tatsächlich Körperkontakt stattgefunden hat. Andere Fälle können als Beleidigung (§185 StGB) oder Stalking (§238 StGB) geahndet werden.
Studien zeigen, dass EU weit jede zweite Frau über 15 Jahren schon einmal sexuelle Belästigung erfahren hat. Dabei kann diese ganz subjektiv wahrgenommen werden. Von Körperkontakt, über Blicke und anzügliche Kommentare ist alles dabei. Deutschlandweit waren im Jahr 2022 über 49 tausend Frauen und Mädchen von Sexualstraftaten betroffen. Mit einer Zunahme von 6,2% waren es 2023 sogar über 52 tausend weibliche Opfer. Diese Zahlen sind umso erschreckender, wenn man sieht, dass die Hälfte der Mädchen zum Zeitpunkt der Tat unter 18 war. In den letzten Jahren ist die öffentliche Aufmerksamkeit auf Sexualstraftaten immer weiter gestiegen. Grund dafür ist häufig die vermeindliche Rechtfertigung: unangemessene Kleidung.
Cosplay ist nicht Consent
Direkt nach dem Eingang wird Saki das erste Mal richtig angesprochen. Eine ihrer Followerinnen hat sie sofort erkannt. Freudestrahlend umarmen sich die beiden, unterhalten sich aufgeregt und posieren für ein schnelles Selfie, bevor es weitergeht. Conventions können schnell stressig werden, vor allem wenn man viele Leute kennt, so wie Saki, die online unter dem User-Namen „sakuramochi_cos" unterwegs ist. Während der Covid-Pandemie 2020 hat sie mit Cosplay angefangen, aber erst im Juni 2021 ihre Selfies auf Instagram veröffentlicht. Zu Beginn nur Bilder und manchmal auch Stories. Auf Tiktok hat sie hauptsächlich Tänze oder Memes nachgestellt. Ihre Follower kamen langsam, aber stetig. Vorallem nach der Dokomi wuchsen diese, allerdings nie über 2000. Bis schließlich ein Video über Nacht viral ging mit 200.000 views und Saki plötzlich über 4000 Follower hatte. Nach ihrem zweiten Livestream in 2023 wuchsen sie dann auf 7000 an. Mit dem Erfolg kamen jedoch auch die Probleme. Von täglichen Posts und zweimal die Woche live gehen, ging es runter zu wöchentlichen Posts und dann seltener, wenn Saki Zeit und vorallem auch die Lust hat.
Der Weg zum tatsächlichen Beginn der Con zieht sich, fühlt sich fast schon an wie eine Wanderung. Eine Wanderung durch Menschenmassen, aufwendige Kostüme, selbstgebastelte Waffen und diverse Foto-Sessions. Halle 4 ist Sakis erstes Ziel. Durch das laute Gemurmel hindurch erzählt sie von ihrer Karriere. Wieso sie aufgehört hat, so oft zu posten oder live zu streamen. Die Antwort liegt in den Kommentaren ihrer Streams. Während am Anfang hauptsächlich Komplimente und Freude über ihre Videos kamen, stieg die Zahl der unangemessenen Fragen, wie nach ihrem Wohnort oder Sexualität. Man sieht ihr deutlich an, wie häufig sie damit umgehen muss. Anstatt genervt zu reagieren, erzählt sie nüchtern von den Situationen. Egal, wie sehr solche Kommentare sie mitnehemen, Saki wirkt selbstbewusst und ruhig. Unangenehmer waren ihr jedoch die offensichtlich anzüglichen Bemerkungen in den Streams, denn in fast jedem wird Saki sexuell belästigt. In der angenehmen Stille einer kurzen Fahrt mit dem Aufzug wird auch klar wieso. „In Streams sind sie eher da, weil dort eine aktive ,live'-Interaktion ist. Leute trauen sich mehr, weil sie ja direkt mit dir interagieren, aber vom Screen geschützt sind. Meistens wollen sie auch einfach deine Überforderung sehen. Wie du reagierst, wenn du liest, was sie schreiben. In Streams gibt es immer einen Fall mindestens. Egal was ich cosplaye. Kinder, Jungs oder Frauen – spielt keine Rolle."
Sakis konfrontiert die Täter, versucht sie zu belehren und zu zeigen, wieso solche Kommentare falsch sind. Auch, oder gerade weil sie sich mittlerweile daran gewöhnen musste, bleibt sie nach Außen unglaublich professionell. Ihre Erlebnisse sind keine Einzelfälle. Viele Frauen, die sich online zeigen, müssen Ähnliches durchmachen. Das Internet bietet Anonymität, die es den Tätern ermöglicht, übergriffig zu werden. Frauen sind dabei häufiger als Männer von digitaler Gewalt betroffen: 63,2% der Opfer sind weiblich. Dabei zählen auch Cyberstalking und Cybergrooming (sexuelle Annäherung an Minderjährige) dazu. Weit über 17 tausend Frauen haben 2023 digitale Gewalt erfahren.
Schuldzuweisung
Das Phänomen, das hinter diesem Vorwurf steckt, nennt sich Täter-Opfer-Umkehr. Dabei wird dem Opfer eine Mitschuld an der Tat zugesprochen, was zu einem Schamgefühl und Selbstzweifeln führen kann. Währenddessen werden die Täter vor einer möglichen Strafe geschützt. Die Angst vor diesem Fall führt dazu, dass weniger Opfer über den Vorfall reden. Gerade bei Sexualstraftaten taucht diese Masche häufig auf, indem beispielsweise eine Vergewaltigung auf ein Tanga geschoben wird. Oder eine enge Jeans, ein Bleistiftrock, ein bauchfreies Oberteil.
Nach einigem hektischen Con-Treiben findet Saki schließlich einen Platz zum Sitzen. Der Boden vor den Eingängen zu den Toiletten ist zwar alles andere als einladend, aber ohne Sitzmöglichkeiten in den Hallen ist es die einzige Option. Das dunkle Material ist staubig und klebrig, als hätten zahlreichen Menschen, die schon vorher hier waren, ihren Teil hinterlassen. Ein wenig seltsam wirkt es, sich inmitten von all den Menschen einfach hinzusetzen und einmal tief durchzuatmen. Mit geschlossenen Augen lehnt Saki an der Wand und knabbert an einem trockenen Keks.
Für sie ist es offensichtlich, dass ihre Kostüme nicht das wahre Problem sind. Ihr Beispiel: Der Charakter „Zero-Two", die in gewissen Kreisen als besonders attraktiver Charakter gilt und somit zu den am meisten sexualisierten Cosplays gehört. Vor ihrem Stream wusste Saki jedoch nichts davon. „Ich wusste nicht, dass sie als eine ,top-waifu' zählt damals und musste den Preis zahlen. Mir wurde gesagt, ,Selber Schuld bei so einem Charakter'. Als ob es eine Entschuldigung dafür wäre, mir ins Detail zu schreiben, wo sie ihr Glied rein schieben wollen."
Um allgemein Aussagen dieser Art entgegenzuwirken, wurden weltweit mehrere Ausstellungen ins Leben gerufen, die die Kleidung von Opfer zeigen, um zu verdeutlichen, dass diese nicht Schuld an den Straftaten sind, sondern nur die Täter selbst. Die Organisation "Was ich anhatte..." reiste mit ihrer Ausstellung durch ganz Deutschland um mehr Aufmerksamkeit zu erhalten. Auch die UN veranstaltete eine Ausstellung von Rise um die Ansicht der Schützer von Tätern zu ändern. Dazu zählen Ärzt*innen, Polizist*innen und insbesondere Richter*innen. Denn diese Institutionen sind in der Position, den Verlauf von Strafverfahren zu beeinflussen. Sie tragen durch ihre Haltung und Entscheidungen dazu bei, den Täter zu schützen und Opfer kleinzureden, wenn sie die Verantwortung einfachauf die Kleidung abwälzen.
Umgang mit Belästigung
Mittlerweile hat Saki ihre eigene Routine entwickelt, um mit sexueller Belästigung umzugehen. „Ich hab gelernt, wenn ich so etwas lese, tu ich so, als hätte ich es nie gesehen und lasse einen Mod die Person bannen." Genau 16 Moderatoren hat sie auf Tiktok, die die Rolle übernehmen, andere Personen aus den Livestreams zu entfernen und im Extremfall auch blockieren und melden. Ihre Moderatoren sind also wie online Bodyguards für Saki. Falls ein Kommentar eine gewisse Grenze überschreitet und beispielsweise andere gefährdet, schaltet sie sich strikt ein. "Ich versuche immer respektvoll und nachvollziehbar zu erklären, weshalb ihr Verhalten falsch war. Manchmal sind das nur Jugendliche die nicht wissen, wie grenzüberschreitend ihr Verhalten ist und entschuldigen sich. Aber leider ist das selten der Fall."
Für Conventions sieht ihr Verhalten ähnlich aus. Bei den vielen Menschen passiert es schnell, dass Saki aus Versehen berührt wird. Anrempeln, vorbei quetschen und auf die Schulter tippen, gehören allerdings dazu. Sobald ihr auffällt, dass ihr jemand absichtlich nah kommt und ihre Grenze überschreitet, zeigt sie das. Ihre Stimme bleibt freundlich, wird nur ein bisschen lauter, dass man sie klar verstehen kann. Die Person bekommt eine deutliche, aber höfliche Zurückweisung, wie: „Kannst du mir bitte nicht so nah kommen?". Absolut Professionell bleibt sie in ihrer Rolle. Nett, symphatisch und verständnisvoll. Trotzdem wird eine gewisse Stärke in ihrer Stimme unüberhörbar. Für den Fall, dass diese Grenze nicht respektiert wird, meldet sie sich lauter zu Wort. Ihre Größe macht sie dabei durch ihre ausdrucksstarke Persönlichkeit wett. Sätze wie, „Hey, ich sagte, einen Schritt zurück, ja?", zeigen meistens ihre Wirkung. „Die meisten merken dann ,Ah, verdammt. Die wird ja zickig. Okay, Rückzug."
In seltenen Fällen muss Saki noch einen Schritt weiter gehen. Wer ihre Grenzen nach mehrmaligem Auffordern nicht respektiert, kriegt das zu spüren. „In solchen Fällen werd ich biestig. Hand weg schlagen, Schritt zurück in eine defensive Haltung und noch lauter werden. Die, die dich belästigen, denken, dass es okay ist. Dass du dich schämst und dich unwohl fühlst und es passieren lässt. Oft wollen sie einfach deine Unsicherheit sehen. Das darf nicht passieren." Ihre Überlegenheit zeigt Saki in solchen Momenten durch klare und laute Sätze. Sie macht sich groß und ihre Schultern breit. Man sieht ihr regelrecht an, dass sie nicht nachgeben wird und für sich selber einsteht. „In dem Moment will ich die Überhand in der Situation und bisher hat das IMMER geholfen."
Schutz auf Conventions
Je nach Convention gibt es mehrere Möglichkeiten für Cosplayer*innen nach Hilfe zu suchen. Die Veranstalter selbst organsisieren manchmal ein Team zur Unterstützung, ansonsten gibt es Info-Stände oder Security. Betroffene können sich auf Cons aber auch an größere Gruppen wenden, die einen „safe-space" aufgebaut haben und Unterstützung anbieten. Unter anderem Camp Hangout, bei denen Saki mehrfach am Stand mitgearbeitet hat. Sie haben für Probleme jeglicher Art ein offenes Ohr und helfen Cosplayer*innen die Überfordert sind. „Oft kann man, wenn man Belästigt wurde, nicht klar denken, man steht unter Schock. Dann werden wir aktiv, um diese Leute zu schützen."
Letztes Jahr ist Saki ein Teil von N.E.E.T Deutschland geworden und trägt dort jetzt den Rang „Operative". N.E.E.T Deutschland ist eine große Gruppe an Cosplayer*innen, die sich am traditionellen, japanischen Homeguard-Militär-Style orientiert. Sie wollen eine Anlaufstelle als Erst-Helfer für jede Situation schaffen. Egal ob es um kleine Reparaturen an den Kostümen geht, oder um mentalen Support. „N.E.E.T war auf der Dokomi 2024 mein ,Personenschutz' und ich hab mich selten so sicher gefühlt. Große, einheitliche Militärcosplay-Gruppen machen einen anderen Eindruck an diese Leute, als wenn du allein umher streifst." Die Mitglieder sind auf den Convention unter anderem mit Funkgeräten ausgerüstet, um die großen Flächen auf Cons abzudecken und dem offiziellen Security-Personal unter die Arme zu greifen. Für Saki ist diese Rolle besonders wichtig um Mädchen, die ähnliche Situationen durchstehen mussten, zu helfen.
*Der Name der Protagonistin wurden geändert, ist der Redaktion jedoch bekannt.