„Meine Beine fühlen sich an wie Blei. Auf dem letzten Drittel wird es noch steiler. Ich habe das Gefühl, im 90-Grad-Winkel nach oben zu gehen.“
Zwischen blauem Feuer und gelber Hölle
1.30 Uhr, Banyuwangi, Insel Java, Indonesien: mein Wecker klingelt. Ungläubig schaue ich auf die Uhr, bis ich realisiere, dass das Piepen kein Fehler war. Denn für diesen Tag steht etwas Großes an – im wahrsten Sinne des Wortes, denn es geht zur Besteigung des Vulkans Kawah Ijen um den Sonnenaufgang zu beobachten.
Reisen zählt zu einer meiner größten Leidenschaften – zumindest war es so vor der Pandemie. Und so zog es mich Anfang 2020 für zwei Monate nach Asien mit dem Rucksack und einer Menge Vorfreude, Aufregung und Plänen im Gepäck. In Indonesien wollte ich den über 2500 Meter hohen Kawh Ijen besteigen. Also buchten mein Freund und ich im anderthalb Stunden entfernten Banyuwangi eine Unterkunft, das Termia Kasih, und mieteten uns direkt nach Ankunft einen Scooter, mit welchem wir in der Nacht selbst zum Vulkan fahren wollten. Wir entschieden uns nach langer Recherche gegen eine geführte Tour. Der Grund: Extrem hohe Preise, Massenabfertigung und die Erfahrungsberichte, die mitteilten, man könne den Aufstieg auf den Vulkan und den Abstieg in den Krater gut alleine meistern.
1.50 Uhr: Es geht los. Mit genügend Wasser und Snacks im Rucksack machen wir uns auf den Weg zum Vulkan, zu zweit auf einem halb angerosteten, laut klappernden Roller. Ich bin für die Navigation auf dem überaus ungemütlichen Rücksitz zuständig, also klammere ich mich mit einer Hand an meinen Freund, mit der anderen navigiere ich mit Google Maps hinaus aus Banyuwangi und hinein in die indonesische Sternennacht. Nach knapp 20 Minuten haben wir uns bereits das erste Mal verfahren. Das liegt aber weniger an meinen Navigierungskünsten, sondern mehr am nicht vorhandenen, mit Schlaglöchern übersäten Straßennetz in Indonesien. Auch Laternen oder Beschilderungen sind auf diesem Teil der Erde ein Fremdwort. Und so fahren wir weiter, durchqueren immer wieder kleine Ortschaften, die oftmals nur aus aus vier bis fünf Lehmhütten und kleinen Straßen-Verkaufsständen, auch Warungs genannt, bestehen. Die letzte halbe Stunde fahren wir in Serpentinen durch den Dschungel bergauf. Endlich sehen wir den Parkplatz vor uns. Wir sind da.
Der Kawah Ijen misst einen Durchmesser von 75 Kilometern und ist besonders bekannt für seinen eingeschlossenen, türkisblauen Kratersee, den Mineralogen auch gerne als das „größtes Säurefass der Erde“ bezeichnen. Grund dafür ist das enorm säurehaltige Wasser und die heiß dampfenden Solfatare (Ausströmungen von Gasen), die oftmals dazu führen, dass der Ijen aus Sicherheitsgründen für Touristen geschlossen wird.
3.30 Uhr: Wir sind nicht die einzigen, die die Idee hatten, heute Nacht auf den Vulkan zu steigen. Ein Jeep nach dem anderen reiht sich auf dem Parkplatz ein. Menschenmassen versammeln sich an den kleinen Verkaufsständen. Einige statten sich noch mit Gasmasken aus. Diese haben wir zum Glück schon im Gepäck. Grund für die Masken sind die extremen Schwefelgase, die stärker werden, je näher man dem Vulkan kommt. Also quetschen wir uns durch die Menge, um möglichst zügig voranzukommen - immerhin wollen wir das Blue Fire nicht verpassen.
Das Blue Fire ist mit einer der Hauptgründe für den großen Ansturm an Touristen, da es auf der Welt kaum vergleichbare Naturschauspiele gibt. Auch wenn es aussieht wie blaue Lava, fließt von den 2800 Meter hohen Hängen kein Magma, sondern über 500 Grad heißer Schwefel. Dieser entzündet sich beim Austritt an die Oberfläche und reagiert mit dem Sauerstoff. Daraus können dann blaue Flammen entstehen, das Blue Fire, das ausschließlich nachts zu sehen ist. Doch eine Garantie gibt es für das Naturspektakel nicht.
Der Aufstieg hat es in sich
4.30 Uhr: Unter Tausenden von Sternen laufen wir seit einer Stunde bergauf. Meine Jacke habe ich schon längst in den Rucksack verbannt, auf meiner Stirn sammelt sich der Schweiß und meine Beine fühlen sich an wie Blei. Auf dem letzten Drittel wird es noch steiler. Ich habe das Gefühl, im 90-Grad-Winkel nach oben zu gehen. Neben mir keucht mein Freund laut vor sich hin. Zu diesem Zeitpunkt bereue ich diesen Trip zutiefst. Aber dann endlich ein Lichtblick: ein Warnschild. In großen, roten Buchstaben steht auf einem Holzschild „Enter at your own risk“ mit einer großen Gasmaske daneben. Mir wird bewusst, was wir eigentlich vorhaben. Wir steigen in das Innere eines aktiven Vulkans! Zudem bemerke ich so langsam den säurehaltigen Gestank in der Luft und meine Augen beginnen zu brennen. Plötzlich tippt mich jemand auf der Schulter an. Vor mir steht ein Indonesier, Oberkörper frei, in Flip-Flops und deutet auf meine Gasmaske, die ich in der Hand halte. Anschließend zeigt er auf den Mund. Es ist wohl Zeit sie aufzusetzen. Zu meiner Überraschung ist sein Englisch besser als gedacht, und so beginnt Anwar von seinem Beruf als Schwefelarbeiter zu erzählen.
Anwar ist 30 Jahre alt und einer der vielen Männer, die ihr Geld auf Java mit dem Abbau von Schwefel verdienen. Für die Bewohner der Insel ist der Ijen eine der Haupteinahmequellen. Mithilfe von Rohren werden die aufsteigenden Sulfurgase in die Schwefelmiene geleitet, wo sie anschließend gekühlt werden bis sie erstarren. Mit Eisenstangen brechen die Schwefelarbeiter dann die Gesteinsbrocken aus dem Boden und transportieren sie in ihre Dörfer, um sie daraufhin an Fabriken zu verkaufen, unter anderem für die Herstellung von Streichhölzern. Für den Abbau steigen die Männer meist zweimal täglich in den Vulkan hinab – ohne Gasmasken, ohne passendes Schuhwerk und mit einem 70 Kilogramm schweren Schwefel-Korb auf den Schultern, für den sie anschließend umgerechnet rund drei Euro bekommen. Wie schwer der Weg hinunter wirklich ist und was die Schwefelarbeiter leisten, sollte ich kurze Zeit später selber zu sehen bekommen.
5.30 Uhr: Anwar begleitet uns den Rest des Wegs. Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich seinen mit blauen Flecken, Narben und Blasen übersäten Rücken anstarre und es mir eiskalt den Rücken herunterläuft. Er erzählt, dass durch das Einatmen der giftigen Schwefelgase und der harten, körperlichen Arbeit viele Mienenarbeiter nicht älter als 40 Jahre werden. Doch für ihn sei es die einzige Möglichkeit, seine Familie zu ernähren. Auch sein Vater arbeitete bereits hier, sein Sohn wird es ihm gleichtun. Auf dem Vulkan angekommen, überrennt mich der Geruch von Schwefel trotz Gasmaske. Doch für eine Pause ist keine Zeit, wir wollen das Blue Fire sehen, bevor die Sonne aufgeht. Also folgen wir Anwar und steigen wie an einer Perlenschnur aufgereiht mit anderen Touristen hinab in den Vulkan. Es gibt keinen eingezeichneten Weg, keine Geländer, sondern nur massenhaft Gestein und Geröll, auf welchem wir uns versuchen mit unseren Stirnlampen nach unten zu arbeiten. Mehrfach rutsche ich auf dem losen Untergrund aus, mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Panik keimt in mir auf, sobald ich daran denke, dass nur ein falscher Schritt der Absturz in die Tiefe sein könnte. Eine Stunde geht es so voran, bis wir endlich unten sind. Und dann ist es da: das blaue Feuer. Flammen entspringen aus dem heißen, immer wieder aufspritzenden Magma und färben sich in den unterschiedlichsten Tönen, während über uns der Himmel voller Sterne ist. Der Auf- und Abstieg hat sich gelohnt, um dieses Naturschauspiel zu beobachten. Wie gefesselt starre ich die blauen Flammen an, während Anwar auf der gegenüberliegenden Seite beginnt, den gelben Schwefel abzubauen.
Nach rund 20 Minuten macht uns der Schwefeldampf derart zu schaffen, dass wir uns wieder auf den beschwerlichen Weg nach oben machen. Immerhin wollen wir den Sonnenaufgang auch nicht verpassen. Oben angekommen, dämmert es schon leicht und das ganze Ausmaß des Vulkans wird erstmals für uns sichtbar. Wir suchen uns einen Platz auf dem kilometerweiten Kraterrand abseits der Massen und setzen unsere völlig erschöpften Körper auf den staubigen Boden. Und dann, ganz langsam, drückt sich die glutrote Sonne hinter dem Vulkan hervor, während der Kratersee türkisblau glitzert und uns ein Postkartenbild der anderen Art beschert. Und dort realisieren wir vermutlich zum ersten Mal wirklich, dass wir auf einem Vulkan in Indonesien sitzen.
Die Corona-Pandemie trifft den Tourismus hart
Heute ist der Schwefelabbau noch immer einer größten Einnahmequellen der Insel, doch eine von ihnen ist innerhalb kürzester Zeit für die Bewohner weggefallen: der Tourismus. Seit der Corona-Pandemie kommen kaum noch Touristen in das indonesische Paradies. Trotz einer erstmaligen Wiederöffnung im September 2021 konnte die Regierung nur 45 Besucher registrieren. Kurze Zeit später wurde das Land erneut aufgrund rasant ansteigender Infektionszahlen vom Rest der Welt abgeschottet. „Die Lage auf Java und in ganz Indonesien ist sehr kritisch. Wir sind angewiesen auf Touristen. Wir haben seit knapp anderthalb Jahren unsere Unterkunft geschlossen“, berichten mir via E-Mail die Besitzer der Unterkunft Termia Kasih, die wir während unseres Aufenthalts gebucht hatten. Aber nicht nur für die Hoteliers ist die Lage kaum aushaltbar. „Wir haben Freunde, die als Tourguides arbeiten. Auch für sie steht die Welt seit der Pandemie still. Viele haben versucht andere Arbeit zu finden, aber das ist hier nicht so einfach. Hinzu kommt die gesundheitliche Lage. Corona hat Indonesien schwer getroffen, die medizinische Versorgung ist dürftig.“
08.30 Uhr: Wir machen uns auf den Rückweg, nachdem fast alle Touristen verschwunden sind. Einerseits, um die Zeit so lange wie möglich genießen zu können, und andererseits, um den Menschenmassen auf dem Rückweg zu entkommen. Außerdem wollen wir uns von Anwar verabschieden. Es fällt mir schwer, diesen von der Arbeit so deutlich gezeichneten Mann mit dem Wissen zurückzulassen, dass er morgen wieder denselben Strapazen ausgesetzt sein wird. Für seine Begleitung wollen wir ihn entlohnen, doch er lacht nur von Herzen und meint: „Ich habe das gern gemacht. Es ist immer schön, nicht übersehen zu werden.“ Das glaube ich ihm sogar und fühle mich gleichzeitig so schlecht, privilegiert zu sein. Also kaufen wir von Anwar und seinen Freunden zwei selbst geschnitzte Statuen, die sie nach ihrer eigentlichen Arbeit Touristen zum Kauf anbieten, um sich etwas dazu zu verdienen. Und ich war mir sicher, mein Geld noch nie zuvor so gut investiert zu haben.