„Die Dunkelziffer ist unfassbar hoch.“
Rettung aus dem Rotlicht
Inhaltswarnung für Leser*innen:
Dieser Artikel kann Themen enthalten, die als diskriminierend und verletzend empfunden werden könnten. Der Text beschäftigt sich mit folgenden sensiblen Inhalten: Zwangsprostitution und Sexarbeit. Bitte sei dir dessen bewusst und lies den Artikel entsprechend deiner persönlichen Sensibilität. Unsere Absicht ist es, respektvoll und einfühlsam zu berichten, um die Würde der betroffenen Personen zu wahren.
Dunkle Kleidung, ernste Gesichter und alle mit den gleichen schwarzen Masken: Eine lange Schlange von Menschen bahnt sich ihren Weg durch die Stuttgarter Innenstadt. Sätze wie „Echte Männer kaufen keine Frauen“ und „Zwangsprostitution ist moderne Sklaverei!“ stehen auf den Schildern, die sie in den Händen halten. Obwohl es eine Demonstration ist, sagt keiner in der Schlange ein Wort. Ihr Schweigen und die Schilder sprechen für sich. Den Betroffenen soll dadurch eine Stimme verliehen werden. Links und rechts entlang der Schlange stehen Menschen mit Flyern, die neugierige Passanten über das Geschehen informieren. Es ist der 16. Oktober 2021. Die Demonstration heißt „Walk for Freedom“ und findet heute in vielen deutschen Städten statt.
Organisiert wird der „Walk for Freedom“ von Esther Ministries e.V.. Die Organisation ist im Rotlichtmilieu tätig und setzt sich für Frauen in Not ein. Sie helfen, wenn eine Frau aus der Zwangsprostitution aussteigen will.
Sabine Lacker, Vorsitzende von Esther Ministries, arbeitet schon lange mit Frauen aus dem Rotlichtmilieu zusammen: „Ich möchte einfach das Glück, das ich hatte, behütet in Deutschland aufzuwachsen, weitergeben an diejenigen, die leider nicht so viel Glück hatten.“ Ihrer Stimme hört man an, wie sehr sie für ihre Sache brennt. Sie ist oft in Stuttgarts Rotlichtbezirk, dem Leonhardsviertel, unterwegs und kennt viele Schicksale der Frauen, die hier gelandet sind.
Auf den ersten Blick sieht das Leonhardsviertel aus wie ein normales Viertel in der Stuttgarter Altstadt. Doch je weiter man die engen Gassen entlangläuft, desto klarer wird, wo man sich hier befindet. Fast jedes Gebäude ist entweder ein Hotel oder eine Bar, wobei Sabine erklärt, dass es sich hier nicht um normale Hotels handelt. Jedes Einzelne ist ein Bordell. Auch die wenigen Wohnungen, deren Fassaden voller verblichener Graffiti sind, werden als Wohnungsbordelle genutzt. Plakate von halb nackten Frauen hängen unter knalligen Neonanzeigen, die eine erotische Nacht versprechen. Obwohl sie zu jedem Bordell und jeder Bar eine Geschichte kennt, wirkt Sabine mit ihrer zierlichen Statur und dem gutbürgerlichen Aussehen vor der pinken Fassade des „Eros Centers“ fast ein wenig fehl am Platz.
Stuttgart, eine Rotlichtmetropole?
Das Rotlichtviertel in Stuttgart ist recht klein. Man könnte deshalb meinen, im Vergleich zu Städten wie Hamburg oder Berlin, die für ihre Rotlicht-Szene bekannt sind, sei Stuttgarts Problem mit Prostitution eher unbedeutend. In Wirklichkeit ist jedoch das Gegenteil der Fall: Mit 0,61 Sexangeboten pro Einwohner*in gibt es in Stuttgart doppelt so viele Angebote wie in Berlin und Hamburg, dies sagt zumindest eine Statistik des „German Integration Program for Survivors of Trafficking“ (GIPST). Stuttgart liege in Relation zur Bevölkerung also deutlich vorne.
Warum ist Stuttgart trotzdem nicht für sein Rotlichtmilieu bekannt? Sabine erklärt dies damit, dass sich der Großteil der Prostitution in Stuttgart nicht in größeren Bordellen im Rotlichtbezirk abspielt. Stand 2018 finde nur knapp 17 Prozent der Prostitution in Stuttgart in Bordellen statt. Mit 51 Prozent haben kleine Bordelle in Privatwohnungen den mit Abstand größten Anteil, so das GIPST in seinem Prostitutionsreport. Dort kann Prostitution stattfinden, ohne dass es auffällt. Auch Zwangsprostitution und Menschenhandel können hier ungesehen passieren.
Prostitution: Zwang oder freier Wille
Es gibt verschiedene Gründe, warum jemand Opfer von Zwangsprostitution wird: Oft ist es eine direkte Folge von Menschenhandel. Mit falschen Versprechen von einem guten Job werden Frauen aus den ärmeren Gegenden Europas nach Deutschland gelockt. Hier angekommen erwartet sie aber kein schönes neues Leben, sondern ein echter Albtraum. Auch die Loverboy-Masche ist beliebt. Dabei gaukelt ein Mann einer Frau die große Liebe vor, nur um sie dann in die Prostitution zu drängen.
Sabine ist in ihrer Zeit im Rotlichtmilieu auch auf sehr viel Armutsprostitution getroffen. Dabei ist Prostitution für die Betroffenen der letzte Ausweg aus der Armut. Sehr oft stehen auch die Familien der Frauen dahinter, die erwarten, dass sie für die Familie anschaffen gehen.
Es gibt auch Frauen, die das als Job sehen, den sie freiwillig und gerne machen. Wie viele Prostituierte tatsächlich gezwungen werden ist schwer zu beurteilen, genaue Zahlen gibt es nicht. Auch ist es schwer zu sagen, was als freiwillig zählt. Armutsprostituierte begeben sich scheinbar freiwillig ins Rotlichtmilieu. Doch ob Prostitution als letzter Weg zum Überleben, mit dem zusätzlichen sozialen Druck der Familien als freiwillig gezählt werden kann? Für Sabine definitiv nicht. Genaue Statistiken hat auch sie nicht, aber durch jahrelanger Erfahrung im Rotlichtmilieu schätzt Sabine: „95 Prozent aller Prostituierten sind Zwangsprostitutierte, ohne zu übertreiben.“ Die Frau, die gerne durch Prostitution ihr Geld verdient gibt es, aber Sabine hat sie in all der Zeit fast nie angetroffen.
Wenn sie davon erzählt, wirkt sie zugleich energisch als auch resigniert. Sie ist fest davon überzeugt Betroffenen den Ausstieg zu ermöglichen, weiß aber, dass sie sehr vielen nie aus der Prostitution heraushelfen kann.
Auszusteigen ist einfacher, als es klingt. Die Prostituierten werden oft von Menschenhändlern oder Zuhältern unter Druck gesetzt. Häufig auch mit Gewalt. Für Esther Ministries ist es sehr schwer, überhaupt an die Frauen ranzukommen. Misstrauen gegenüber jedem ist ein fester Grundsatz im Rotlichtmilieu. Sabine und ihre Kolleg*innen versuchen über längere Zeiträume Vertrauen zu den Frauen aufzubauen. Fasst eine Frau den Entschluss, aus der Prostitution auszutreten, sind sie da, um zu helfen. Wenn die Frau bedroht wird oder unter regelmäßiger physischer Gewalt leidet, muss es oft sehr schnell gehen. Esther Ministries hat Schutzwohnungen, in denen die Frauen für eine Weile unterkommen können. Dort werden sie finanziell unterstützt und betreut. Doch auch für die, die den Ausstieg geschafft haben, ist das Leben weit weg von unserem „normal“. „Naja, wie normal kann ein Leben überhaupt werden, wenn man jahrelang unter solchen Umständen gelebt hat? Fortschritte sind definitiv möglich, aber nur in kleinen Schritten.“, sagt Isabella Summerer, die ehemalige Prostituierte in den Schutzwohnungen von Esther Ministries betreut.
Und was tut Deutschland?
Sabine erinnert sich an einen Fall von Menschenhandel, bei dem die Frau sich nach schwerer Gewalt an Esther Ministries wendet und um Hilfe bittet. Sie kooperieren mit der Polizei und der Menschenhändler wird mitten in der Nacht festgenommen. Sabine und ihre Kolleg*innen holen die verängstigte Frau sofort aus ihrer Wohnung und bringen sie in eine Schutzwohnung. Die nächsten Wochen wird sie dort versteckt und kann nicht rausgehen, in ständiger Angst einer der Menschenhändler findet sie. Sie weiß zu viel über das Netzwerk, um sich in Sicherheit zu wissen.
In diesem Fall konnten tatsächlich Menschenhändler festgenommen werden, was eher eine Ausnahme ist. 2020 gab es 291 Ermittlungsverfahren wegen Menschenhandels im Zusammenhang mit sexueller Ausbeutung. „Die Dunkelziffer ist unfassbar hoch“, sagt Sabine. Doch warum gibt es nur so wenig Ermittlungen? Für Sabine ist daran die Gesetzeslage schuld, denn wäre Prostitution nicht legal, wäre es für die Polizei viel einfacher zu ermitteln. So geht das nur mit eindeutigen Beweisen.
Jens Laurer, Pressesprecher der Polizei Stuttgart, sagt dazu Folgendes: „Die eigentliche Schwierigkeit bei Verdacht auf Zwangsprostitution und Menschenhandel liegt eher an der Nachweisbarkeit bei den Tatverdächtigen, da die Opfer oftmals keine Anzeige erstatten oder aber aus Angst nicht gegen die Tatverdächtigen aussagen.“
Sabine hofft, dass sich die Gesetzeslage in Deutschland ändert und die Regierung aufhört wegzusehen.