„Ich hatte die Echsen und ein komisches Terrarium. Das sah aus wie ein kleines grünes Häuschen aus Stahl und war viel zu klein.“
„Meine eigene kleine Wilhelma“
„Kommt her, Kinder, es gibt nochmal Futter!“, ruft Jens Wittmann* durch das hell erleuchtete Zimmer. Er nimmt den Deckel von einer alten Tabakdose und stochert mit einer riesigen Pinzette ein paar Mal darin herum, bis er endlich eine erwischt hat: eine große Schabe. Ein exquisiter Leckerbissen, der sich zwischen den zwei Metallstäben windet. In aller Seelenruhe geht Jens von einem Glaskasten zum nächsten und lockt seine Kleinen mit dem dicken Insekt zu sich hinüber. Die lassen sich nicht lange bitten: Schwupp, haben die flinken Mäuler schon zugeschnappt und lassen sich den Happen schmatzend auf der Zunge zergehen. Auf die Frage, ob Echsen Freude empfinden, antwortet er: „Ich würde sagen, sie empfinden besonders dann Freude, wenn sie Hunger haben und Futter kriegen. Aber damit hat sich‘s auch.“
Der 69-Jährige lebt mit 24 Echsen in seiner Wohnung in Stuttgart zusammen. Gleich neun Terrarien, ganz nach dem Vorbild des Stuttgarter Zoos Wilhelma, hat er in seinem Wohnzimmer. Hier schläft und liest Jens auch. Der ehemalige Gymnasiallehrer wollte nicht jeden Tag vor seinen Schulbüchern aufwachen. „Für mich sieht das morgens besser aus als eine Bücherwand“, sagt er und öffnet die Plexiglastür von einem Terrarium, aus dem eine Krötenechse prompt ihr kleines Köpfchen emporreckt.
Wie alles begann
Die Faszination für Echsen ist bei Jens schon immer präsent gewesen. Bereits mit neun Jahren habe er seine ersten Echsen, Frösche, Molche und Blindschleichen gehalten, erzählt er. Seine Devise dabei: Hauptsache alles, was kein Fell hat! Fand der gebürtige Wattenscheider damals im Ruhrgebiet auf der Straße ein Tierchen, so nahm er es einfach mit nach Hause und ließ es nach ausgiebigem Studium irgendwann wieder frei. Damals hatten die Tiere noch keine Terrarien, in denen Strahler und Heizmatten sie mit Licht und Wärme versorgten. Er erinnert sich gut daran:
Mittlerweile modelliert und gestaltet er jedes der Terrarien selbst. „Ein wahrgewordener Kindheitstraum“, findet der Rentner. „Das ist auch das eigentlich Interessante an dem Hobby, dass man da eine idealisierte Natur darstellen kann“, meint er und zeigt stolz auf ein Terrarium rechts oberhalb vor seinem Bett: das Regenwaldbecken, in das er eine Sprühanlage mit drei Düsen eingebaut hat. „Die geht dreimal am Tag an. Dann ist da immer für eine bestimmte Luftfeuchtigkeit gesorgt.“ Ein Traum für sein Chamäleon.
Doch es gab auch Zeiten, in denen Echsen eine untergeordnete Rolle in Jens‘ Leben spielten. Mit der Pubertät widmete er sich anderen Hobbys und so traten die Reptilien erst mal in den Hintergrund. Eine Banklehre, die Wehrpflicht, einige Jahre als Sport- und Englischlehrer, zwei Kinder und zwei Scheidungen später flammte seine Reptilienleidenschaft bei einem Zoobesuch in der Wilhelma wieder auf. Daraufhin legte er sich eine kleine Krötenechse zu. „Vor allem in den Jahren vor meiner Pension entwickelte sich die Liebe für die Tiere schon fast zur Obsession“, grinst er, während er den Blick durch sein Zimmer schweifen lässt. Über 70 Echsen hat Jens im Laufe der Jahre besessen. Er sammelte viele unterschiedliche Arten, züchtete sogar Nachkommen und schrieb zahlreiche Artikel und einige Bücher über seine kleinen Weggefährten.
„Ich weiß von jeder Echse, ob es ihr gerade gut geht oder nicht, und erst wenn es ihnen gut geht, geht es mir auch gut.“
„Ich habe sie dauernd um mich herum, weiß genau, wie sie sich verhalten, und guck sie auch einfach gerne an. Ich weiß von jeder Echse, ob es ihr gerade gut geht oder nicht“, schmunzelt Jens, „und wenn es ihnen gut geht, geht es mir auch gut.” Und natürlich umgekehrt. Manchmal fühle er sich wie eine Mutter mit ihrem Kind, gibt der hagere Mann mit Lesebrille lachend zu.
Auch wenn es in den Urlaub geht, dürfen seine Kleinen nicht fehlen. Dann packt er jede einzelne in eine Styropor-Box, legt sie nebeneinander in seinem Auto ab und macht sich mit seinen Gefährten auf den Weg in ein Haus nach Italien. Ganze zwei Monate verbringen sie gemeinsam ihren Urlaub dort und Jens freut sich: „Dort bekommen die Echsen die optimale Dosis Sonne und kriegen tolle Farben.“
Um zu merken, dass ihn viel mit seinen stillen Lieblingen verbindet, reicht eigentlich schon ein Blick durch sein Wohn-, Arbeits-, und Schlafzimmer. Viele andere Echsenzüchter haben ein Extra-Terrarienzimmer, in dem sie ihre Reptilien füttern, anschauen und dann wieder gehen. Jens hat sich bewusst dafür entschieden, sein Wohn- und Schlafzimmer mit den mehr als zwei Dutzend Echsen zu teilen. „Wenn du keine Emotion hast, dann tust du die ins Nebenzimmer“, meint er und nickt vielsagend. Für ihn ist es das Wichtigste, einen persönlichen Bezug zu den Tieren zu haben. „Klar“, räumt er ein, „es ist keine Umarm-Beziehung wie mit einem Hund. Aber wenn ich zum Beispiel ein Terrarium herrichten will, dann bin ich richtig aufgeregt. Oder wenn ich eine neue Echse kriege, da hüpft mir das Herz. Da muss sich hier was bewegen“, betont er und klopft sich mit der flachen Hand auf die Mitte seiner Brust.
„Wenn ich eine neue Echse kriege, dann hüpft mir das Herz.“
Was wäre, wenn er keine Echsen mehr halten könnte? Da wird Jens nachdenklich und gibt zu, dass er sich bereits viele Gedanken über die Endlichkeit des Lebens gemacht habe. Es gehe vielen Leuten so, dass sie ein bisschen melancholisch werden und dann auch manchmal in ein Loch fallen, sagt er. Jens ist froh um seine kleinen schuppigen Schützlinge – immerhin sind sie eine Beschäftigung, die dem Tag Struktur gibt: „Dann wachst du auf und denkst dir: Jetzt fütter ich die erst mal.“ Er ist sich sehr sicher, dass er im Altersheim schon bald nicht mehr wäre. „Deswegen will ich so lange hier leben, wie ich kann.“ Hier, wo er sich seinen Kindheitstraum erfüllt hat: in seiner eigenen kleinen Wilhelma.
*Name von der Redaktion geändert