„Alles, was man so in meinem Alter macht: Trinken, mit Freunden treffen, essen gehen – das ging für mich nicht mehr.“
Krank durch gesunde Ernährung?
Annes Blick schweift zum Kühlschrank. Sie hat Hunger. Es ist noch eine Reispfanne da. Ist die noch frisch? Und woher ist eigentlich der Reis? Wie viel Zucker wohl in Sojasauce ist? Lag die Zucchini eigentlich lange im Supermarkt? Ist sie aus Deutschland? Und was ist das? Hähnchen? Woher kommt das? Was, wenn es Krankheiten überträgt. Das kann doch nicht gut für den Magen sein. Ihr Blick fällt auf die Uhr. 18:00 Uhr. Zu spät. Essen nach 18 Uhr ist ungesund. Sie schließt den Kühlschrank und geht an diesem Abend hungrig ins Bett.
Ein gesunder Lifestyle liegt im Trend. Viel Gemüse, Vollkornprodukte und am besten unverarbeitet – die Liste mit Empfehlungen für eine gesunde Ernährung ist lang. Wer sich an all das hält, gilt als beispielhaft. Doch werden diese Regeln zur Besessenheit, sprechen Expert*innen von Orthorexia Nervosa.
Ein Leben mit Orthorexie
Orthorexie beschreibt den krankhaften Zwang, sich gesund zu ernähren. „Wir erleben eine Art Fixierung auf eine gesunde Ernährungsweise“, so Frau Dr. Friederike Barthels von der Fakultät für klinische Psychologie der Universität Düsseldorf. Regeln rund um die Nahrung bestimmen das Leben. Zu Beginn werden nur vereinzelt Produkte aus dem Speiseplan gestrichen, doch mit der Zeit verstärken sich die Verbote und am Ende bleibt kaum noch Nahrung übrig. Während die Regeln bei jedem*r Orthorektiker*in verschieden sind, ist der psychische Druck, den die Betroffenen spüren, gleichbleibend. Die Gedanken kreisen ständig um Nährstoffe und die Vor- und Nachteile für den Körper. Für andere Dinge bleibt kaum Zeit.
Wie qualvoll ein Leben mit Orthorexie ist, weiß die 21-jährige Studentin Anne nur zu gut. Schon mit sechs Jahren begann sie darüber nachzudenken, welche Lebensmittel gut für ihre Gesundheit sind. Sie stellte Regeln auf, unterteilte Nahrung in gesund und ungesund und hielt sich strikt an ihre Verbote. Mit der Zeit schrumpfte der Kreis der erlaubten Lebensmittel immer weiter zusammen und am Ende blieb fast nur noch Gemüse übrig. Die Orthorexie kontrollierte Annes Leben. „Alles, was man so in meinem Alter macht: Trinken, mit Freunden treffen, essen gehen – das ging für mich nicht mehr.“
Die Regeln führten schon bald zu einer Mangelerscheinung. „Ich habe abgenommen, nicht weil ich es wollte, aber es ging halt einfach nicht mehr anders“, beschreibt sie ihre damalige Situation. Denn anders als bei Essstörungen wie Anorexie oder Bulimie, geht es Orthorektiker*innen nicht um Kalorien oder Gewicht. Viele Betroffene haben Angst vor Krankheiten oder wollen ihre Gesundheit optimieren. Auch ein Kontrollverlust wie eine Trennung kann Orthorexia begünstigen, da die Betroffenen durch ihre strikte Ernährung das Gefühl der Kontrolle zurückerlangen. Die genauen Ursachen werden jedoch gerade erst erforscht.
Wann wird aus gesund, ungesund?
Anne wollte mehr Essen, verschiedene Gerichte ausprobieren und wieder Spaß an Ernährung haben. Doch die Studentin hat wegen eines traumatischen Erlebnisses extreme Angst davor, sich zu übergeben. Sie versuchte das Erbrechen um jeden Preis zu vermeiden und entwickelte Orthorexie. Gesunde Ernährung an sich sei nicht schlimm, betont Barthels. „Das wichtige Unterscheidungsmerkmal sind die negativen Folgen. Entweder auf körperlicher oder auf psychischer Ebene."
„Ich habe mich immer weiter abgekapselt und wusste einfach nicht mehr, wie ich mein Leben gestalten sollte"
Den bitteren Beigeschmack der Orthorexie musste Anne am eigenen Leib erfahren. Die Mangelernährung machte sie kraftlos und schwach und fehlende Nährstoffe führten zu Schwindel. Noch häufiger leiden die Betroffenen an den psychischen Begleitsymptomen. Orthorektiker*innen sind besessen von ihrer strikten Ernährung und ein Regelbruch ist für die Betroffenen fatal. Es folgen Selbsthass, Schuldgefühle und soziale Isolation. Ein spontaner Brunch, eine Geburtstagsparty oder eine Weihnachtsfeier – für Anne war das damals unvorstellbar. „Ich habe mich immer weiter abgekapselt und wusste einfach nicht mehr, wie ich mein Leben gestalten sollte“. Zudem litt die Studentin an teilweise extremen Panikattacken, nachdem sie etwas Ungesundes gegessen hatte.
Behandlung? Fehlanzeige.
Orthorexia Nervosa ist keine anerkannte Essstörung und selbst unter Expert*innen ist das Phänomen vereinzelt unbekannt. So auch bei Annes damaliger Therapeutin. Die Studentin passte weder in das Schema der Anorexie noch in das der Bulimie. Anne wollte nicht abnehmen und auch Kalorien waren ihr egal. „Die ganzen Sitzungen, die ich hatte, gingen darauf hinaus, dass bei mir etwas nicht stimmte, aber dass es keine Essstörung ist“, erzählt Anne. Es sei nur eine Phase, hatte man ihr gesagt. Sie bekam ein Antidepressivum, das alles noch viel schlimmer machte. Ihr Körper stoß das Medikament ab und ihr wurde schlecht. Sie wurde schwächer und hatte keine Kraft mehr. Sie fühlte sich wie gelähmt. Ständig kreisten sich ihre Gedanken um die Frage, welche Lebensmittel gut und frisch sind. Ihre Lebensqualität nahm drastisch ab und es schien, als wäre Anne in ihrer hoffnungslosen Lage gefangen.
„Das Verständnis meines Umfelds hat mir sehr geholfen. Denn auch wenn sie nicht verstanden haben, wovor ich Angst habe, wussten sie, dass ich Angst habe.“
Vor zwei Jahren erkannte Anne, dass sich etwas ändern muss. Ihr Gewicht war gefährlich niedrig und sie stand vor der Wahl: eine ausgewogene Ernährung oder Psychiatrie. Nur mithilfe ihrer Familie bekam die Studentin die Kurve. Heute kann sie wieder mehr Vielfalt an Lebensmitteln in ihrem Leben zulassen. „Das Verständnis meines Umfelds hat mir sehr geholfen. Denn auch wenn sie nicht verstanden haben, wovor ich Angst habe, wussten sie, dass ich Angst habe.“, erklärt Anne.
Bei Orthorexie kann der Schritt zur professionellen Hilfe sinnvoll sein. Insbesondere bei Psycholog*innen, die sich auf Essstörungen spezialisiert haben, können Betroffene eine auf Orthorexie angepasste Therapiemethode bekommen, so Barthels. Aber auch Beratungsstellen für psychische Krankheiten können eine erste Anlaufstelle sein. Anne wünscht sich zudem, dass das Thema mehr Aufmerksamkeit bekommt. „Die Gesellschaft muss wissen, dass es auch Essstörungen außerhalb von Magersucht und Bulimie gibt.“
Die strengen Regeln rund ums Essen sind auch heute ein ständiger Begleiter in Annes Leben. Doch sie hat gelernt, damit umzugehen. Annes Essverhalten ist noch nicht normal, doch sie kann wieder einen Blick in den Kühlschrank werfen und sieht mehr als nur Regeln und Verbote. Sie sieht Lebensmittel, die ihr Kraft geben, eine Erfahrung, die sie sammeln kann oder einfach nur ein leckeres Gericht. Und selbst wenn die Uhr schon auf 18:17 Uhr steht, nimmt sie sich heute entspannt ihr Abendessen aus dem Kühlschrank und genießt gemeinsam mit ihren Liebsten eine leckere Reispfanne.
Betroffen? Hilfe findest du hier: www.abas-stuttgart.de