„Die Kommission ist die einzige Institution, die das langfristige Gemeinwohl oder Gesamtinteresse der Europäischen Union vertreten kann und das bringt sie mit ihren Gesetzen und Vorschlägen ein.“
Wie demokratisch ist die EU?
Eine repräsentative Demokratie hat das Ziel, den Willen der Bürger*innen abzubilden. Auch in der EU soll das Volk bestmöglich vertreten sein, allerdings sehen Kritiker*innen dabei einige Defizite. Dem Europäischen Parlament fehlt das sogenannte Initiativrecht. Anders als die meisten nationalen Parlamente demokratischer Staaten kann es keine Gesetzesvorschläge machen. Außerdem gehört zu der EU ein Organ, die Kommission, die nicht demokratisch gewählt wird, nur vom Parlament bestätigt. Es muss betont werden, dass die EU nicht eins zu eins mit anderen Systemen vergleichbar ist und sich über die letzten 50 Jahre stetig weiter demokratisiert hat. „Wobei ich nicht sagen will, dass da alles perfekt ist. Man kann Demokratien immer verbessern“, erklärt Ingeborg Tömmel, Professorin für europäische Politik.
Unsere Wahl
Ein genauer Blick auf die EU-Organe zeigt: Allein über die Wahl des Europäischen Parlaments können Bürger*innen direkt mitbestimmen. Allerdings treten bei der konkreten Umsetzung davon Probleme auf. Manche Mitgliedsstaaten, wie beispielsweise Frankreich, verhindern durch eine Sperrklausel von fünf Prozent den Einzug kleinerer Parteien in das Parlament. Deutschland und andere EU-Staaten haben diese wiederum aufgehoben. Bestimmungen wie die Sperrklausel werden von den Nationalstaaten festgelegt. Zudem vertreten Parlamentarier*innen in einem großen Staat wie Deutschland rund 850 Tausend Bürger*innen, während Abgeordnete aus einem kleinen Staat wie Luxemburg gerade einmal 100 Tausend Bürger*innen repräsentieren. Nach der Einordnung von Tömmel sei das Parlament nicht mehr handlungsfähig, wenn Deutschland proportional so viele Sitze hätte wie Luxemburg. Die Gewählten gehören keinen europäischen Parteien an, die mit ihren politischen Überzeugungen auf europäischer Ebene Wahlkampf betreiben würden. Im aktuellen System werben nationale Parteien um die Zustimmung ihrer Bürger*innen, nicht selten mit innenpolitischen Themen. Die Wahl wird unter anderem von der politischen Situation in den einzelnen Mitgliedstaaten beeinflusst. Es gibt allerdings immer wieder Parteien, wie beispielsweise Volt, die europaweit vertreten sind und sich bewusst dafür einsetzen, europäische Themen zum Beispiel mehr in die Kommunalpolitik aufzunehmen. Beispielsweise fördern sie europäische Bildungsprojekte und Austauschprojekte wie Erasmus+ auf lokaler Ebene. Die studierte Politikwissenschaftlerin Jovanna Schneider kritisiert außerdem: „Problematisch finde ich, dass die Wahlbeteiligung in manchen EU-Ländern so niedrig ist, dass man sich fragen muss, ob die demokratisch gewählten Abgeordneten legitimiert sind, wenn nur 20 Prozent der Bevölkerung beispielsweise abgestimmt haben.“
Doch wie lassen sich die starken Wahlunterschiede erklären? In Kroatien gehen 2024 gerade einmal 21,35 Prozent der Bevölkerung wählen. Dem entgegen stehen 89,82 Prozent in Belgien. Warum die Wahlbeteiligung in diesen beiden Ländern so unterschiedlich ausfällt, erfahrt ihr im folgenden Podcast.
Das Wahlverfahren des Europäischen Parlaments weist also Defizite auf. Trotzdem ist es durch die Wahl direkt legitimiert. Regierungschefs und Minster*innen sind in ihren Nationalstaaten demokratisch gewählt worden. Damit sind Ministerrat und Europäischer Rat indirekt legitimiert. Doch was ist mit der Kommission? Pro Mitgliedsstaat wird ein*e Kommissar*in entsendet. Sie durchläuft Anhörungen und unterzieht sich der kritischen Bewertung des Parlaments. Kommissar*in kann nur werden, wer von diesem final bestätigt wird. Das Demokratieprinzip wird also nicht verletzt.
Keine Initiative für das Parlament
Eine weitere Klage: Dem Europäischen Parlament fehlt das Recht, Gesetze zu erarbeiten und vorzuschlagen. Denn das sogenannte Initiativrecht hat in der Union nur die Kommission. Tatsächlich räumt Tömmel ein, dass nach dem Lehrbuch der Politikwissenschaft zu jeder Legislative ein Initiativrecht gehöre. Allerdings macht sie auch darauf aufmerksam, dass es von den nationalen Parlamenten fast nie gebraucht würde. Wichtig zu betonen ist dennoch, dass das Parlament die Kommission auffordern darf, zu einem bestimmten Thema ein Gesetz zu entwerfen. Ist dieses fertig ausgearbeitet, kann das Parlament darüber abstimmen und gegebenenfalls Änderungen vornehmen. Im Zusammenspiel mit dem Ministerrat, der genau die gleichen Möglichkeiten hat, kann das Parlament so am Gesetz mitwirken und hat die finale Entscheidungsmacht.
Dabei unterscheidet sich das Europäische Parlament deutlich von nationalen Parlamenten. Dort gibt es eine Polarisierung zwischen Mehrheit und Minderheit. Den Mehrheitsparteien kommt dabei die Aufgabe zu, die Regierung zu stützen. Die Minderheitsparteien erfüllen die klassischen Aufgaben der Opposition: beobachten, kritisieren, Gegenpositionen vertreten. Doch auf der Europäischen Ebene gibt es keine Regierung in diesem Sinne. Das Parlament sei eigentlich Gegenspieler zum Ministerrat, schließt Tömmel. Dabei ist es für das Parlament besonders wichtig, breite Mehrheiten und einen starken Konsens zu bilden. In der Vergangenheit haben sie sich deshalb oft Themen angenommen, die im Parteienstreit der nationalen Regierungen untergekommen sind. Stärkerer Klimaschutz wäre ein Beispiel dafür. „Das ist eigentlich ein Parlament, so klassisch wie man es sich vorgestellt hat, bevor es politische Parteien gab“, erklärt Tömmel weiter. Dabei argumentieren Parlamentarier*innen immer wieder aus nationaler Perspektive, versuchen aber oben genannte breite Mehrheit zu finden. Die Minister*innen der Mitgliedstaaten treffen sich dann im Ministerrat, um Gesetze nochmals unter allen nationalen Gesichtspunkten zu besprechen.
Die unabhängige Kommission für Europa
Dass die Kommission aber grundsätzlich die Gesetzesentwürfe erarbeitet, hat vor allem einen Vorteil: Als unabhängiges Organ ist sie bestrebt, einen gesamteuropäischen Konsens zu suchen. Kommissar*innen verpflichten sich bei Dienstantritt, keine Anweisungen insbesondere von ihrer nationalen Regierung entgegenzunehmen. Dass sie zudem nicht auf Wählerstimmen aus dem Europäischen Parlament angewiesen sind, versachlicht ihre gemeinsamen Abwägungen und Beschlüsse. Es führt dazu, dass die Kommissar*innen langfristiger denken. Anders als bei nationalen Politiker*innen, die oft nur auf die kommenden Legislaturperioden schauen. Tömmel beschreibt es wie folgt: „Die Kommission ist die einzige Institution, die das langfristige Gemeinwohl oder Gesamtinteresse der Europäischen Union vertreten kann und das bringt sie mit ihren Gesetzen und Vorschlägen ein.“
In der Arbeitsweise der Kommission lassen sich einige demokratische Elemente finden. Beispielsweise die sogenannte Bürgerinitiative. Sie ermöglicht es Bürger*innen Europas die Kommission aufzufordern, Gesetze für ein bestimmtes Thema zu erarbeiten. Die Voraussetzung dafür sind eine Millionen Unterschriften. Außerdem sind Kommissar*innen im Austausch mit Unternehmen oder Nicht-Regierungs-Organisationen, um deren Interessen und Erkenntnissen Gehör zu schenken. Dabei versuchen sie bewusst, sich auf die breite Mehrheit zu stützen. Sie gewähren nicht nur gut ausgestatteten und organisierten Akteuren Handlungsspielraum, sondern fördern auch kleinere Akteure, beispielsweise durch Forschungsaufträge. Trotz allem ist auch die Kommission nicht gefeit, dem Druck von großen Playern nachzugeben. Lobbyismus sei im Zusammenspiel mit der Kommission sehr effektiv, im Europäischen Parlament aber ein größeres Problem, meint Tömmel.
Lobbyismus und EU steht oft im Zusammenhang. Was steckt dahinter und muss Lobbyismus zwingend etwas Schlechtes sein? Das Wortlaut-Interview mit LobbyControl geht dieser und weiteren Fragen nach.
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Eine Frage der Perspektive
Auf die Frage, ob die EU Demokratiedefizit hat, antwortet Jovanna Schneider: „Meiner Meinung nach besteht kein Demokratiedefizit per se. Viel eher besteht ein Kommunikationsdefizit darin, wie die EU den Bürger*innen vermittelt, wie die Demokratie auf europäischer Ebene funktioniert.“ Dabei sehe sie die Medien, aber besonders auch die Kommunen in der Verantwortung. Denn durch Kommunikation kann die EU den Bürger*innen nähergebracht werden und sie können verstärkt in die demokratischen Prozesse mit eingebunden werden.