Stammzellspende 6 Minuten

Eine zweite Chance schenken

Timo im Krankenhausbett während seiner Spende.
Timo im Jahr 2019 bei seiner Stammzellspende im Universitätsklinikum Tübingen – glücklich über die Chance, vielleicht ein Leben zu retten. | Quelle: Timo Mahringer
12. Dez. 2024

Jedes Jahr erkranken tausende Deutsche an Blutkrebs, 2020 waren es laut Robert-Koch-Institut rund 13.500. Eine Stammzellspende kann Krebskranken das Leben retten. Doch was bedeutet es, Spender*in zu sein? Timo berichtet von mentalen und physischen Herausforderungen.

Es ist früher Abend. Die U-Bahn rumpelt durch die Stadt. Timo ist nach einem Tag an der Uni endlich auf dem Nachhauseweg, als eine Benachrichtigung auf seinem Handy aufleuchtet. Eine E-Mail. Er öffnet sie, liest den Betreff und stockt: „Sie wurden als passender Spender ausgewählt.“ Sekundenlang starrt er auf das Display und scannt die Nachricht. Dann versteht er, was das bedeutet. „Ich bin derjenige, der potenziell Leben retten darf.“ Ein überwältigender Moment. „Es war ein unbeschreiblicher Mix aus Emotionen – ein Puzzle aus Trauer, Freude, Ehrfurcht und Hoffnung“, beschreibt Timo heute.

Nur wenige Menschen, die sich bei einer Stammzellspenderdatei, wie der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS), registrieren, werden tatsächlich als Spender*innen ausgewählt. Der Grund: Damit eine Spende möglich ist, müssen die HLA-Merkmale von Spender*in und Patient*in möglichst übereinstimmen. Diese Gewebemerkmale spielen eine entscheidende Rolle, damit der Körper der erkrankten Person die transplantierten Stammzellen annehmen kann. Die Wahrscheinlichkeit für eine möglichst hohe Übereinstimmung der HLA-Merkmale liegt zwischen 1:10.000 bis 1:1.000.000, erklärt Christiane Schier, Ärztin in der Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin am Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart. Doch die Ärztin hat auch eine gute Nachricht: Für die meisten Blutkrebserkrankten – neun von zehn – wird innerhalb von zwei bis drei Monaten eine passende Spenderin oder ein passender Spender gefunden. Und dann stehen die Chancen gut. „Je nach Erkrankung liegen die Erfolgsaussichten einer Stammzellentransplantation meist zwischen 20 bis 95 Prozent“, betont Schier.

Stammzellen: Blutstammzellen befinden sich im Knochenmark. Aus ihnen entwickeln sich alle Blutzellen: rote und weiße Blutkörperchen sowie Blutplättchen.

Stammzelltransplantation: Bei einer Stammzellentransplantation werden der erkrankten Person nach einer Bestrahlung oder Chemotherapie gespendete Stammzellen übertragen. Die Stammzellen bilden im besten Fall ein neues, gesundes blutbildendes System.

Für Timo war sofort klar: Er wollte helfen. Die Vorstellung, einem Menschen das Leben zu retten, ließ ihn keinen Moment zögern. „Ich fühlte mich geehrt und wollte direkt loslegen.“ Angst vor Nebenwirkungen oder Risiken? Fehlanzeige. „Vielleicht war ich ein bisschen blauäugig“, gibt er zu. 

Zunächst hieß es aber: Papierkram. Einverständniserklärungen, Datenschutzformulare – die DKMS brauchte viele Unterschriften. Danach ging es darum, sicherzustellen, dass Timo gesund und fit war. Also begann der Weg zur Spende mit zwei Check-Ups: einem ersten kurzen Arztbesuch und einem halbtägigen Termin im Krankenhaus - EKG, Ultraschall und Bluttests. „Das war gut“, erzählt Timo. „So wusste ich, dass alles in Ordnung ist.“ Als er die Ergebnisse hatte, stand fest: Seine Stammzellen würden peripher, also aus dem Blut, entnommen – eine Methode, die aufgrund des geringeren Aufwands in den meisten Fällen eingesetzt wird.

Gegenüberstellung beider Methoden.
Die Auswahl der Methode hängt von der Erkrankung und Präferenz der spendenden und empfangenden Person ab.
Quelle: Luisa Käppele

Vier Tage vor der Spende begann die Vorbereitung: Timo setzte sich jeden Tag selbst G-CSF-Spritzen ins Bauchfett. Das Medikament sorgt dafür, dass Stammzellen aus dem Knochenmark ins Blut übergehen. Die Nebenwirkungen spürte Timo schnell: Schüttelfrost, Kopfschmerzen und Knochenschmerzen. Keine echte Grippe, sagt er, aber unangenehm. Vor allem in einer stressigen Zeit. Zwei Prüfungen standen für ihn an. Eine habe er „komplett versemmelt“, weil er sich weder konzentrieren noch stillsitzen konnte. Die andere sagte er ab. Auch sein geplantes Auslandssemester musste er um ein halbes Jahr verschieben. „Das war alles sehr aufwändig“, gibt Timo zu. „Ich war körperlich nicht fit und mental total aufgeregt.“

Timos Symptome gehören zu den häufigsten Nebenwirkungen der G-CSF-Spritzen, so Schier. Darüber hinaus vergrößert sich in vielen Fällen vorübergehend die Milz, was meist unbemerkt bleibt. Allergische Reaktionen oder Luftnot sind seltener und noch seltener tritt etwas Schwerwiegenderes auf, erklärt Christiane Schier. Alle Nebenwirkungen seien jedoch behandelbar und Spätfolgen des Medikaments nicht bekannt.

Zwei Packungen mit Spritzen und Medikament.
Eine Packung für morgens, eine für abends: Die Flasche rechts enthält das Medikament, das Timo mit Wasser aus der unteren Spritze anmischen musste. | Quelle: Timo Mahringer
Die Flüssigkeit, die mit der Nadel ins Bauchfett gespritzt wird.
Die Injektion erfolgt in das Unterhautfettgewebe, was laut Schier ein kurzes Kälte- oder Druckempfinden auslösen kann. | Quelle: Timo Mahringer

Nach vier Tagen Vorbereitung war es soweit: Spendentag. Um kurz vor 9 Uhr morgens betrat Timo das Krankenhaus, ließ Puls und Werte checken – alles lief ruhig ab. „Für die Leute dort ist das Routine“, erzählt er. Im Krankenhausbett bekam Timo links und rechts je eine Nadel in die Armvenen gelegt. Er lag bequem und schaute zu, wie die Maschine leise brummte und die Stammzellen aus seinem Blut filterte. Für ihn hieß es jetzt: abwarten. „Ich habe zwei Stunden lang zugeschaut, wie sich der Beutel mit der lachsfarbenen Flüssigkeit füllt“ – seine Stammzellen, die vielleicht ein Leben retten würden. Und dann piepte es. Fertig.

Der Zellseparator bei der Stammzellspende.
Der Zellseparator zentrifugiert das Blut und teilt es der Dichte nach in seine Bestandteile auf. Im Beutel oben rechts befinden sich Timos Stammzellen.
Quelle: Timo Mahringer

Der Ablauf der peripheren Stammzellentnahme klingt simpel: Das Blut wird gefiltert, die Stammzellen entnommen und der Rest zurückgegeben. Doch unerwünschte Begleitsymptome sind dabei nicht selten. Häufig sinkt der Calciumspiegel im Blut, was ein Kribbeln in den Fingern oder an den Lippen verursachen kann. „Das ist meistens ungefährlich und wird mit einer Calciumzufuhr ausgeglichen“, sagt Schier. 

Während der Spende war Timo „positiv aufgeregt“, sagt er. Nur ab und zu kribbelten die Finger. Dann habe er Bescheid gegeben und es wurde sofort gehandelt. Am Morgen hatte er noch die letzten zwei Dosen des Medikaments gespritzt. Topfit war er nach der Spende deshalb nicht – aber glücklich. 

Die Einstichstelle an der linken Hand direkt nach der Spende.
Die Einstichstelle an Timos linker Hand direkt nach der Spende. | Quelle: Timo Mahringer
Die Einstichstelle am rechten Oberarm direkt nach der Spende.
Die Einstichstelle an Timos rechtem Oberarm direkt nach der Spende. Beide Wunden sind ohne Komplikationen verheilt. | Quelle: Timo Mahringer

Wenige Tage später kam der Anruf der DKMS: Die Stammzellen gingen in die USA, zu einem Mann zwischen 25 und 30 Jahren. „Das war beeindruckend zu hören“, erinnert sich Timo. Nach 90 Tagen dann die erlösende Nachricht: Die Zellen wurden angenommen. Er hätte einen anonymen Brief schreiben können, doch er zögerte. Ein offener Kontakt ist in den meisten Ländern aus rechtlichen Gründen erst nach zwei Jahren erlaubt. Wenige Tage vor Ablauf der zwei Jahre erfuhr er, dass der Empfänger am Vortag gestorben war. Warum, das wird er nie wissen. „Die Zellen haben ihren Zweck erfüllt, aber ich habe mir trotzdem Vorwürfe gemacht.“ Immer wieder tauchten die Gedanken auf, trotz aller Logik. „Es war so, als hätte ich einen Engel und einen Teufel auf den Schultern. Einer sagte: Du hast alles getan. Der andere fragte: Hättest du mehr tun können?“ Erst mit der Zeit konnte er diese Gedanken ablegen. Timos Fazit: Körperlich war die Spende „ein Spaziergang“, emotional jedoch „eine Achterbahnfahrt“.

Die E-Mail in der U-Bahn war für ihn nicht nur der Beginn einer Spende, sondern der Start eines neuen Kapitels. Heute engagiert er sich bei der DKMS als Volunteer und Trainer und ist IT-Chef bei AIAS, einem Studierendenverein im Kampf gegen Blutkrebs. „Helfen zu können, ist ein Privileg“, sagt er. Deshalb wäre er jederzeit gerne wieder der passende Spender. Er würde alles genauso wieder tun, „weil es das wert ist“.

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Wer kommt als Stammzellspender*in in Frage und wie kann ich mich registrieren?

Jede gesunde, volljährige Person bis 61 Jahre kann Stammzellen spenden. Einschränkungen bestehen bei chronischen Krankheiten, etwa des Herz-Kreislauf-Systems oder bei Infektionen. Um dich als Spender*in zu registrieren, kannst du ein Typisierungsset bei einer Stammzellspenderdatei wie der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS) oder der Deutschen Stammzellspenderdatei anfordern oder an einer Typisierungsaktion teilnehmen.