„Wenn man sich nackt gegenüber steht, spielt der soziale Status plötzlich gar keine Rolle mehr.“
Ein Sommertag in einem kleinen Hafenstädtchen in Südfrankreich. Die idyllische Ferienanlage direkt am Meer lädt mit ihren Restaurants, Cafés und Souvenirläden zum Entspannen und Flanieren ein. Familien mit Kindern und Paare gemischten Alters verbringen hier ihre freien Tage und genießen Sonne, Strand und Meer. Klingt erst mal nicht wirklich außergewöhnlich, wenn da nicht diese eine Sache wäre: Alle sind splitterfasernackt!
Die meisten Nackturlauber dieser Anlage kommen schon seit Jahren immer wieder hierher, um ihre Passion für das Nacktsein wenigstens ein paar Tage im Jahr voll ausleben zu können. So wie Markus* und seine Familie, die bereits seit 22 Jahren ihre Urlaube hier verbringen. Obwohl unsere Gesellschaft als offen und enttabuisiert gilt, polarisiert öffentliche Nacktheit nach wie vor. Was bei Freikörperkult (kurz: FKK)-Anhängern das Gefühl von Freiheit und Ungezwungenheit auslöst, bedeutet für viele andere genau das Gegenteil. Sie verbinden den Gedanken, in der Öffentlichkeit nackt zu sein, mit Scham und dem Gefühl, ausgeliefert und angreifbar zu sein. Naturisten jedoch genießen es nichts anzuhaben und fühlen sich dadurch ganz im Einklang mit der Natur. Anders als von Außenstehenden häufig vermutet geht es nicht darum, sich zu zeigen oder Aufmerksamkeit zu bekommen. Für sie ist es das Natürlichste und Ursprünglichste überhaupt, keine Kleidung zu tragen.
Was steckt hinter dem Naturismus-Gedanken?
„Gemeinschaftliche Nacktheit ist ein essentielles Kennzeichen des Naturismus, der die Naturelemente Sonne, Luft und Wasser völlig auswertet. Der Naturismus stellt das physische und psychische Gleichgewicht wieder her, indem er Erholung in einer natürlichen Umgebung ermöglicht.“
Quelle: Internationale Naturisten Förderation
Markus schätzt besonders das Gefühl von Freiheit, das er bekommt, wenn er nichts auf der Haut hat. Dieses Empfinden stellt sich allerdings erst dann ein, wenn man beginnt, sich in der Situation wohl zu fühlen. „Natürlich war es das allererste Mal etwas komisch.“, räumt Markus ein. Häufig hat man durch Schönheitsideale, die einem medial vermittelt werden, ein verzerrtes Bild vom eigenen Körper. Das Schöne am kollektiven Nacktsein ist unter anderem die Erkenntnis, dass jeder irgendwelche Makel hat und trotzdem auf seine Weise schön ist. Der Vergleich mit anderen, ganz normalen Menschen führt somit zu einem gesünderen und positiveren Selbstbild. Menschen, die regelmäßig FKK praktizieren, haben ein wesentlich selbstbewussteres und entspannteres Verhältnis zum eigenen Körper als andere.
„Wenn man sich nackt gegenüber steht, spielt der soziale Status plötzlich gar keine Rolle mehr.“
FKK-Fan Markus berichtet außerdem von einem Gefühl der Verbundenheit mit der Natur und den Menschen, die einen umgeben. „Wenn man jemanden nackt kennenlernt, ist man ganz schnell beim Du.“ Es zählt nicht mehr, was man ist, sondern wer man ist. Im Alltag nimmt jeder Mensch durch gesellschaftliche Erwartungen und nicht zuletzt auch durch die jeweilige Kleidung verschiedene Rollen an: Auf der Arbeit spielt man beispielsweise die Rolle des seriösen Vorgesetzten, Zuhause die Rolle des liebevollen Ehemanns und beim Treffen mit Freunden die des lässigen Witzbolds. Sich hüllenlos zu bewegen gibt einem jedoch die Möglichkeit, ganz man selbst zu sein. Frei von gesellschaftlichen Zwängen und Konventionen.
In den meisten Köpfen unserer Gesellschaft ist das Thema Nacktheit nur einen Katzensprung vom Thema Sex entfernt. Für Markus hingegen hat das Nacktsein absolut keinen sexuellen Hintergrund. Auch die FKK-Anlagen distanzieren sich deutlich von zu viel körperlicher Zuneigung in der Öffentlichkeit. Sex am Strand beispielsweise ist auch dort ein absolutes No-Go. Noch nie in den ganzen Jahren hätte er etwas derartiges beobachtet, sagt Markus. Auch wissenschaftliche Studien belegen, dass Nacktheit innerhalb der Freikörperkultur ihre sexuelle Bedeutung verliert. Man gewöhnt sich schlichtweg an den Anblick von nackten Körpern, wodurch sich die sozialisierte Verbindung von Nacktheit und Sex auflöst. „Wir machen keine große Sache daraus. Wir verbringen dort einen ganz normalen Familienurlaub und tun das, was man im Urlaub so macht – nur eben nackt.“
*Name von der Redaktion geändert