„Die polnische Außenpolitik ist nur ein Instrument, um innenpolitisch zu punkten.“
Die Solidarität in Polen hat Grenzen
Im Sommer 2021 strömen immer mehr Menschen aus Ländern wie Afghanistan, Syrien, dem Irak und Iran über Belarus an die Außengrenzen von Polen, Lettland und Litauen. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko wirbt sie gezielt unter falschen Versprechungen nach Belarus. Die Europäische Union wirft ihm vor, die Geflüchteten zu instrumentalisieren, um die EU unter Druck zu setzen. Zuvor hatte Brüssel nach den manipulierten belarussischen Präsidentschaftswahlen 2020 Sanktionen gegen das Land verhängt.
Als Push-Backs werden die mitunter gewaltsamen Zurückweisungen von Schutzsuchenden bezeichnet, nachdem sie die Grenze ihres Ziel- oder Durchgangslandes überquert haben, ohne dass ihnen das Recht auf Asyl gewährt wurde. Damit verstoßen Push-Backs gegen internationales und europäisches Recht. (Quelle: ECCHR, PRO ASYL)
Die Partei „Prawo i Sprawiedliwość“ (PiS), zu Deutsch „Recht und Gerechtigkeit“, ist seit 2015 die regierende Partei Polens. Sie gilt als national-konservativ, rechts-populistisch und EU-skeptisch.
Rechtswidrig und ungerecht
Am 2. September 2021 erklärt die polnische PiS-Regierung den Ausnahmezustand, nachdem immer mehr Menschen versuchen die Grenze zu überqueren. Polen errichtet eine drei Kilometer breite Sperrzone an der Grenze zu Belarus, zu der Journalist*innen und humanitäre Hilfsorganisationen keinen Zutritt haben. Unabhängige Informationen über die Situation der Geflüchteten sind schwer zugänglich.
Hilfsorganisationen und Helfende aus der Zivilbevölkerung würden kriminalisiert und der Beihilfe zur illegalen Einreise beschuldigt, sagt Franziska Vilmar im Interview. Sie ist Expertin für Asylrecht und Asylpolitik bei Amnesty International Deutschland.
Im November kommt es dann zu einer humanitären Katastrophe. Menschen stecken an der Grenze fest und kampieren bei Minusgraden im Niemandsland zwischen den beiden Staaten. Die polnische Regierung lässt sie nicht ins Land und Belarus lässt sie nicht wieder zurück. Es häufen sich Berichte über Menschen, die an der Grenze sterben oder gewaltsam von polnischen Grenzbeamt*innen zurückgedrängt werden. Diese Push-Backs hat die Regierung unter Ministerpräsident Mateusz Morawiecki faktisch legalisiert. Bis Juni 2022 will Polen zudem eine fünf Meter hohe Mauer aus Stahl fertigstellen, um Geflüchtete vor dem Übergang abzuschrecken.
Diejenigen, die es aus Belarus über die Grenze schaffen, landen meist für Monate in geschlossenen und bewachten Einrichtungen. Amnesty International konnte mit einigen Geflüchteten sprechen, die momentan in polnischen Abschiebezentren inhaftiert sind. „Es herrschen unwürdige Haftbedingungen“, sagt Franziska Vilmar. Die Menschen würden willkürlich in Isolationshaft landen und rassistisch beleidigt werden. Die Zentren seien völlig überfüllt: Bis zu 24 Männer seien auf acht Quadratmetern untergebracht. Für sie bestehe dort keine Hoffnung auf ein faires Asylverfahren. „Die polnische Regierung hofft offenbar, die Menschen so lange unter furchtbaren Verhältnissen festzuhalten, bis sie sagen: Setzt uns in den Flieger“, berichtet Franziska Vilmar.
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Warum die Regierung handelt, wie sie handelt
Die regierende PiS-Partei verfolgt schon seit dem Wahlkampf 2015 einen Kurs der Abschottung, wenn es um Migration geht. Während sich im selben Jahr die sogenannte Flüchtlingskrise zuspitzt, beginnt sie Migrant*innen als eine Gefahr für die nationale Sicherheit darzustellen. Polen weigert sich, geflüchtete Personen aufzunehmen, die in andere EU-Mitgliedsstaaten umverteilt werden sollen, um Griechenland und Italien zu entlasten und verstößt damit rückwirkend gegen europäisches Recht.
„Die Menschen an der belarussischen Grenze passten in die Storyline der Regierung“, erklärt Agnieszka Łada-Konefał, promovierte Politikwissenschaftlerin und stellvertretende Direktorin des Deutschen Polen-Instituts. „Die Geflüchteten wurden als Instrumente in Händen von Autokraten wahrgenommen, nicht als Menschen, die vor fallenden Bomben fliehen müssen“. Mit ihrer anti-migrantischen Haltung und Rhetorik möchte die Partei die Wähler*innenschaft für sich gewinnen. Wenn die Bevölkerung sich unsicher fühlt, wachse die Zustimmung zur Partei, vermutet Agnieszka Łada-Konefał.
Zudem lenkt die Krise an der belarussischen Grenze von den Krisen innerhalb Polens ab. Die Regierung hat unter anderem mit der steigenden Inflation, den Folgen der Corona-Pandemie und dem Rechtsstaatlichkeits-Streit mit der EU zu kämpfen. „Die polnische Außenpolitik ist nur ein Instrument, um innenpolitisch zu punkten“, sagt die Politikwissenschaftlerin.
Auch nach außen inszeniert sich Polen als unabhängiger Verteidiger der europäischen Außengrenze vor dem, was die Regierung die „hybride Kriegsführung“ Lukaschenkos nennt. Hilfe, zum Beispiel durch die europäische Grenzschutzbehörde Frontex, nimmt die EU-kritische PiS-Regierung im Gegensatz zu Litauen nicht an.
Die ukrainischen „Gäste“
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine Ende Februar sind nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) über drei Millionen Menschen nach Polen geflohen – mehr als in jedes andere Land. Um deren Integration zu erleichtern, hat die Regierung ein Sondergesetz erlassen, das den Ukrainer*innen Zugang zum Arbeitsmarkt sowie zu Gesundheits- und Sozialleistungen ermöglicht. Die meiste Arbeit lastet jedoch auf den Schultern der Hilfsorganisationen und Freiwilligen, die die Aufnahme der Geflüchteten hauptsächlich koordinieren.
Laut einer Studie des polnischen Forschungsinstituts IBRiS finden 90 Prozent der Pol*innen, dass ukrainische Flüchtlinge in Polen aufgenommen werden sollten. Viele polnische Familien hätten gemeinsam mit den ukrainischen „Gästen“ – wie sie sie nennen würden – das Osterfest gefeiert, erzählt Agnieszka Łada-Konefał.
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Was unterscheidet die Geflüchteten?
Die große Solidarität liegt vor allem an der historischen und kulturellen Nähe der beiden Staaten. Beide verbindet die gemeinsame Bedrohung durch Russland und nach dem Angriff auf die Ukraine fürchten viele Pol*innen, dass sie die Nächsten sein könnten.
Polen ist ein sehr homogenes Land, was die Nationalitäten betrifft. Dennoch lebten bereits vor dem Krieg ca. 1,5 Millionen Ukrainer*innen als Arbeitsmigrant*innen in Polen und waren in den Alltag der Gesellschaft integriert. Andersherum haben viele Pol*innen Wurzeln in der heutigen Ukraine, da westliche Teile des Landes mal polnisch waren. Zudem fliehen vor allem Frauen und Kinder aus der Ukraine, die tendenziell als schutzbedürftiger und weniger als „Bedrohung“ wahrgenommen werden.
Könnte die Solidarität mit der Ukraine einen Kurswechsel der polnischen Migrationspolitik bewirken? Franziska Vilmar fordert: „Unabhängig davon, welchen Pass ein Mensch in der Tasche hat, muss jeder EU-Staat den Zugang zum Schutz und eine menschenwürdige Aufnahme gewährleisten". Agnieszka Łada-Konefał blickt eher skeptisch in die Zukunft. Zwar gebe sich Polen gerade als Vertreter der europäischen Werte, doch nächstes Jahr stehen Parlamentswahlen an. Es sei unwahrscheinlich, dass die Regierung eine europäische Politik der offenen Grenzen anstrebt.