„Ich hätte hier jetzt jeden Stein austauschen können, aber sie gehören zur Geschichte.“
Gezeichnet von der Zeit
Momentan erzählen sie ihre Geschichte Jean Lorke und seiner Familie. 2009 hat er mit seiner Frau Sandra das Haus am Ortsrand von Dolgesheim, einem kleinen Städtchen in der Region Rheinhessen, gekauft. Heute leben sie mit ihren drei Kindern auf dem Hof, entdecken immer wieder neue Spuren und erleben auch die eine oder andere Überraschung in dem alten Haus. Sie sind die momentanen Bewohner und damit seit neun Jahren auch ein Teil seiner Geschichte.
Das von außen unscheinbare, von wildem Wein umrankte Haus ist auf den zweiten Blick gar nicht mehr so unscheinbar: Jeder Bewohner, jeder Zeitabschnitt, viele Ereignisse haben hier ihre Spuren hinterlassen. Krakelige Schrift, kaum sichtbar an den Außenwänden, von Schülern, Gefangenen und Wirtshausgästen hinterlassen. Überall noch bauliche Überbleibsel aus verschiedenen Jahrzehnten. Von der Rolle des Flaschenzugs außen am Haus, der die Luke zum Keller öffnete, bis hin zu den alten Rohren des ehemaligen Ofens: Das Haus ist ein stiller Zeitzeuge, der viele Geschichten zu erzählen hat. Wo andere sagen, dass müsse renoviert werden oder gar ganz weg, sagt Jean Lorke: „Das bleibt alles so wie es ist, das gehört dazu.“ Sowohl Jean als auch das Haus haben Glück gehabt, dass kein Vorbesitzer das Haus renoviert hat und somit die Historie erhalten blieb.
Lebende Zeitzeugen, die aus Kriegszeiten berichten könnten, gibt es immer weniger. Die über 70 Millionen Soldaten, die im ersten Weltkrieg im Einsatz waren, müssten inzwischen weit über hundert Jahre alt sein. Der letzte Veteran des ersten Weltkriegs starb bereits vor sieben Jahren. Menschen aus der Zeit des zweiten Weltkriegs sind heute weit über 80. Umso wichtiger werden stille Zeitzeugen mit Spuren von Menschen, die hier vor langer oder auch kürzerer Zeit gelebt haben. Sie können uns heute das erzählen, was keiner mehr weiß. Genau so einen stillen Zeitzeugen hat Jean mit diesem Haus gefunden und er setzt alles daran, seine Geschichte herauszufinden.
Die damaligen Bewohner
Die Geschichte des ursprünglichen Hofes beginnt 1903. Erster Besitzer des Grundstücks war ein jüdischer Pferdehändler. Zu dem beigefarbenen Backsteinhaus gehörten ein großes Stück Feld, ein Pferdestall und ein paar Jahre später noch eine Scheune. Jeder einzelne Stein wurde von Hand hier im Ort, keine hundert Meter entfernt, gebrannt. Bis heute ist das Haupthaus doppelwandig und mit Lehmmörtel gebaut. Auf zwei Etagen gab es kleine, einfach zu heizende Zimmer. Der Händler hinterließ bereits seine ersten Spuren: Kleine metallene Ringe am Haus, um die Pferde anzubinden und am offensichtlichsten den Pferdestall. An der Wand die Futtertröge und am Boden die Ablaufrinne für den Mist der Pferde – alles problemlos wiederzuerkennen, wenn man erstmal Bobby-Car, Cityroller und sonstige Spielzeuge der Lorke-Kinder zur Seite geschoben hat.
Jahrzehnte später wurde der Pferdehändler von den Nationalsozialisten enteignet. Es zog vermutlich eine Bauernfamilie in das Haus ein, die auf den umliegenden Weinfeldern arbeitete. Die Scheune beherbergte nun keine Kutschen mehr, sondern französische Kriegsgefangene. Sie mussten auf den Weinfeldern mithelfen und sonstige Arbeiten erledigen, die anfielen. Ihre Spuren sind heute an den Hauswänden zu finden. Blass, aber überall und rund um das Haus herum, auf Hand- und Augenhöhe finden sich eingeritzte, krakelige Namen und Sprüche. Direkt neben der Haustür, schräg über der Klingel, sind zwei Bilder von einem Bombenflugzeug und einem im Nachhinein unkenntlich gemachten Hakenkreuz. Hinter dem wilden Wein verstecken sich noch mehr eingeritzte Schriftzeichen aus allen Generationen.
Jahre später kaufte ein Lehrer den Hof und unterrichtete hier Kinder. Dort, wo heute Jeans und Sandras Kinder spielen, spielten früher schon andere und verewigten sich auch an den Wänden. Irgendwann im Laufe der Zeit wurde das Feld verkauft und der Hof wurde etwas kleiner. Später wurde das Haus zu einer Wirtschaft. Im Haupthaus wurde getrunken, während in der Scheune, nun ein Tanzsaal, gelacht und gefeiert wurde. Es folgte ein neuer Besitzer, der Tanzsaal wich einer kleinen privaten Autowerkstatt. Der Keller und die Scheune dienten als Lager für Reifen und sonstige Ersatzteile. Anschließend wurde das Haus von Privatperson zu Privatperson verkauft, bis es schließlich Jean und Sandra kauften – oder wie er sagt: „Das Haus hat uns gefunden.“
In der Gegend um Dolgesheim gibt es mehrere solcher alter Häuser. Teilweise deutet nichts mehr auf ihre lange Geschichte hin, da nicht jedem heutigen Besitzer der Charme der vergangenen Jahre so wichtig ist. Die Frage, was man mit alten Bauten aus Zeiten vor oder während des Krieges macht, ist vielschichtig zu beantworten. Einige der bekanntesten und geschichtsträchtigen Bauten sind zum Beispiel der Flughafen Tempelhof in Berlin oder die Führerbauten in München. Der Flughafen wird als Büro, Veranstaltungsort oder Film-Location benutzt. Die Führerbauten beherbergen heute eine Musikhochschule. Ob und wie solche Gebäude heute benutzt und warum sie nicht abgerissen werden, ist abhängig von ihrer Symbolik.
Die heutigen Bewohner: Familie Lorke
Nichts am ursprünglichen Material zu zerstören, sondern behutsam das Haus zu restaurieren, ist von besonderer Bedeutung für Jean. Schon beim Einzug war klar, dass nichts vom alten Baumaterial zerstört werden soll. „Wenn du so ein altes Haus komplett renovierst, dann vernichtest du die Aura – und zwar unwiederbringlich.“ Neben kleinen Umbauten ist Jean auch bemüht, die Geschichte des Hauses aufzuarbeiten. Die Informationen aus verschiedenen Jahrzehnten zusammenzutragen, geht nicht von heute auf morgen. Seit Jahren gelingt es Jean immer mehr herauszufinden. Als nächstes möchte er das Geheimnis lüften, wie der erste Besitzer, der jüdische Pferdehändler, hieß und was mit ihm passiert ist. Eine große Herausforderung, weil nicht jedes Jahr oder jeder Besitzer lückenlos dokumentiert wurde. Durch Archive, Gespräche mit Nachbarn oder alten Bewohnern der Stadt deckt er aber Stück für Stück die Geschichte auf.
Die letzte Baustelle war das Gästebad. Da es in den 1970er Jahren üblich war, Ecken und Vorsprünge mit Rigibs zu verkleiden, war die erste Aufgabe, dem Raum seine ursprüngliche Form zurückzugeben. Beim Abklopfen ist die innere Mauer freigelegt worden. „Einen Teil der Mauer wollte ich behalten, ich finde der passt perfekt ins Bad.“ Der Umbau ist komplizierter als bei anderen Häuser, da mehr beachtet werden muss. Holzbalken dürfen nicht feucht werden, Stromkabel und Rohre sind von Generation zu Generation anders verlegt worden. Bei solchen Bau-Projekten stößt man nicht nur auf Herausforderungen, sondern auch auf versteckte Spuren der Vergangenheit: Beim Umbau des Schlafzimmers lag hinter einem freigelegten Balken ein kleines Edeka-Blättchen aus dem Jahr 1959. Das wurde natürlich aufgehoben, abgeheftet und soll bald einen Platz an der Wand finden.
Bei so einem besonderen Haus ist natürlich auch die Suche nach Möbeln und Fliesen eine besondere Herausforderung. Oft restauriert Jean in seiner Hobbywerkstatt alte Möbelstücke oder ähnliches von Freunden. Hierbei achtet er besonders darauf, die Patina, die Spuren der Vorbesitzer, nicht zu zerstören. „Ginge es nach mir, wäre alles alt. Aber meine Frau mag die Kombination von alt und neu und da hat sie ja auch recht.“ Ein, zwei Mal im Jahr findet man die Lorkes dann doch im Möbelhaus wieder. Wenn sie sich dazu entscheiden, ein fertiges Stück zu kaufen, dann muss es optisch zu den alten passen. Zu einhundert Prozent gelingt das nicht immer, man müsse auch Abstriche machen, räumt Jean ein.
Das Herzstück des Hauses ist die alte Holztreppe. Sie wurde 1903 eingebaut und ist mit dem Dielenboden und einem Türrahmen das älteste Stück. Auf einem steinernen Sockel fängt sie an, dreht sich steil nach oben und endet abrupt an einem modernen Kinderabsperrgitter. Beim Hochgehen knarrt sie, doch das „gehört zum Charme, das bleibt so“. Oben im zweiten Stock noch ein Originalteil: der Dielenboden. Er knarrt zwar auch, aber hier gilt das Gleiche: Nur lackieren, Knarren gehört dazu – obwohl unter den Schränken oder am Rand des Teppichs kleine schwarze Flecken sind. Vermutlich standen hier kleine Gussöfen, aus denen immer mal ein heißes Stück Kohle fiel.
Die zukünftigen Bewohner
„Diese stummen Zeitzeugen üben eine Faszination auf mich aus. Da denkst du dir: Mensch, wenn dieses Haus jetzt erzählen könnte. Und dann liegt es eben an einem selbst, die Geschichte herauszufinden. Wenn man sie dann hat, macht es das Haus für einen selbst nochmal wertvoller.“ Das Sterben der menschlichen Zeitzeugen bedeutet nicht, dass die Vergangenheit vergessen wird. Die Aufgaben von Zeitzeugen müssen jetzt wir übernehmen, indem wir die Vergangenheit bewahren und weitergeben.
Nichts kann einen Menschen und seine Worte ersetzen, aber an Orten wie Jeans Haus gibt es die Möglichkeit, mit ein wenig Fantasie und einem aufmerksamen Auge die Geschichte auf andere Art und Weise zu bewahren. „Da überlegt man sich schon, wer hier alles ein- und ausgegangen ist“, meint er nachdenklich. So viele Generationen, so viele Erinnerungen und so viele unterschiedliche Leben. Ein Teil davon zu sein, sei ein tolles Gefühl. Jean fragt sich natürlich auch, wer nach ihnen einmal hier wohnen wird. Möglicherweise Menschen, die die Geschichte fortführen und wiederum über Jeans und Sandras Alltag rätseln. Jetzt ist es erstmal Zeit für ihre Geschichte – Zeit dafür, eigene Spuren zu hinterlassen.