Eine Stadt im Minus
Krisenstadt, Schuldenhochburg, faktisch pleite – die Medien finden viele Worte für das finanzielle Fiasko, das in Pirmasens seit langem vor sich geht. Einst das Schuhmekka Deutschlands rutschte die kreisfreie Stadt in Rheinland-Pfalz in den letzten Jahren immer tiefer in die Schuldenfalle. Die Zahlen spiegeln den finanziellen Niedergang unverblümt wider.
Im Jahr 1995 lagen die Schulden des Haushaltes von Pirmasens beim nicht-öffentlichen Bereich bei 50,8 Millionen Euro. Dieser Wert meint Verbindlichkeiten gegenüber der privaten Kreditwirtschaft, also vor allem bei Kreditinstituten, Banken sowie beim sonstigen inländischen und ausländischen Bereich. Zehn Jahre später, im Jahr 2005: 165 Millionen Euro. Nochmal eine Dekade nach vorne, im Jahr 2015: 379,7 Millionen Euro Schulden.
Von 1995 bis 2015 wuchsen die Schulden in Pirmasens demnach um fast das 6,5-Fache. Tendenz: weiter steigend. Wie die folgende Grafik zeigt, bestehen die Schulden aus Investitions- und Liquiditätskrediten. Letztere, die auch oft als Kassenkredite bezeichnet werden, dienen der Stadt lediglich dazu, die laufenden Kosten decken zu können. Sprich, hätte sich Pirmasens im Jahr 2015 nicht mit 317 Millionen Euro Liquiditätskrediten verschuldet, wäre die Stadt nicht mehr flüssig gewesen.
Pro Kopf heruntergerechnet trug jeder Pirmasenser im Jahr 2015 9.480 Euro Schulden auf seinen Schultern. Das ist wesentlich mehr als zehn Jahre zuvor (3.799 Euro pro Kopf) und fast neun Mal so viel wie noch 1995. Damals war jeder Pirmasenser mit 1.047 Euro verschuldet und entsprach damit annähernd der Pro-Kopf-Verschuldung in Rheinland-Pfalz und Deutschland.
Während die landes- und bundesweite Pro-Kopf-Verschuldung im Jahr 2005 immer noch bei um die 1.000 Euro lag, hatte sich die in Pirmasens bereits mehr als verdreifacht. Weitere zehn Jahre später, im Jahr 2015, stieg die Verschuldung der Bürger auf allen drei Ebenen. Während die Pro-Kopf-Verschuldung in Deutschland im Vergleich zu 2005 um 60 Prozent wuchs, stieg sie in Pirmasens um 150 Prozent. Die größte Steigerung war allerdings im Bundesland Rheinland-Pfalz zu beobachten. Dort wuchsen die Pro-Kopf-Schulden von 2005 bis 2015 um 165 Prozent. Mit wie viel Euro die Bürger rechnerisch über die Jahre belastet waren, ist der folgenden interaktiven Grafik zu entnehmen.
Die Pro-Kopf-Verschuldung ist nur ein rechnerischer Wert. Wie es den Pirmasensern wirklich geht, zeigt die Schuldnerquote.
Pirmasenser ertrinken in Schulden
Um die finanzielle Situation der Bürger ist es schlecht bestellt. Im Jahr 2017 wurde in Deutschland eine durchschnittliche Schuldnerquote von etwa 10 Prozent gemessen. Pirmasens liegt laut der Wirtschaftsauskunftei “Creditreform” aktuell mit knapp 18 Prozent weit über dem Bundesdurchschnitt und bildet mit Rang 401 nach Bremerhaven und Wuppertal momentan das Schlusslicht. Damit sind rund 7.500 Pirmasenser über 18 Jahre so stark verschuldet, dass ihnen Zwangsvollstreckung und Privatinsolvenz droht.
Wie groß die Probleme der Pirmasenser sind, ihr Leben zu finanzieren, zeigt außerdem die hohe Zahl der Privatinsolvenzen. Im Jahr 2005 haben 175 Bürger Insolvenz angemeldet, im Rekordjahr 2010 waren es sogar 235 laufende Verfahren. Pirmasens war einmal der reichste Ort von Rheinland-Pfalz. In den Neunzigerjahren hieß es, hier lebten die meisten Millionäre. Heute sind es die meisten Schuldenkönige. Im Jahr 2010 konnte jeder zwanzigste Pirmasenser seinen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen.
Die Stadt führt noch immer den Rekord der meisten Fälle in der Republik, und das, obwohl der Wert in den letzten Jahren fast um die Hälfte gesunken ist. Die Hauptursache für den Rückgang der Privatinsolvenzen ist methodischer Natur. So sehen viele überschuldete Bürger, die ein Pfändungsschutzkonto nutzen, keine Notwendigkeit, eine Privatinsolvenz anzumelden. Dies ist der Fall, wenn das monatliche Einkommen der Betroffenen so gering ist, dass es unter dem pfändbaren Betrag liegt. Ein Vergleich mit den Kreisstädten Memmingen, Suhl und Emden - alle ähnlich groß, aber in unterschiedlichen Bundesländern - zeigt, dass die Pirmasenser im Jahr 2015 am tiefsten in der Schuldenfalle steckten.
Gründe für die Überschuldung gibt es viele, heißt es vom Amtsgericht Pirmasens. Häufig bekommen Leute Geldprobleme, wenn sie ihren Job verlieren oder der Ehepartner sich trennt. Eine immer größere Rolle spielt auch die Altersarmut. Diese demographische Entwicklung ergibt sich aus dem dramatischen Strukturwandel in Pirmasens. Während viele junge Leute wegziehen, die es sich leisten können, bleiben die Älteren und Ortsgebundenen zurück. Die Bürger sind arm, weil sie keine Arbeit finden und wenig Geld verdienen. Und die Stadt ist es auch. Doch woher kommen die enormen Schulden der Stadt?
Millionenloch im Haushalt
Betrachtet man den Haushaltsplan der Stadt Pirmasens fällt vor allem das große Defizit beim Ergebnishaushalt auf. Den Ergebnishaushalt kann man mit dem Erfolgsplan eines Unternehmens vergleichen. Dort werden alle Aufwendungen und Erträge aufgeführt. Im Ergebnishaushalt müssen die Aufwendungen durch die Erträge jährlich gedeckt werden. Damit soll sichergestellt werden, dass die verbrauchten Ressourcen in gleicher Höhe wieder erwirtschaftet werden. Doch da liegt schon das erste Problem in Pirmasens: Im Jahr 2015 beispielsweise, entstand ein Defizit von rund 22,6 Millionen Euro. Die Finanzleistung der Stadt Pirmasens reicht also nicht aus, die Aufwendungen zu decken.
Um das besser verstehen zu können, müssen wir die Teilhaushalte genauer betrachten. Für was gibt eine Stadt denn eigentlich ihr Geld aus? Hier ein paar Beispiele: Die Teilhaushalte I und II, die auch die Überbegriffe “Stadterhaltung” und “Soziales” haben könnten, kamen im Jahr 2015 zusammen auf ein Defizit von rund 56,6 Millionen Euro. Dabei schließen sie beispielsweise Ausgaben für die Stadtentwicklung und Städteplanung mit einem Minus von 7,2 Millionen Euro ein. Auch Ausgaben für das Stadtmarketing und den Tourismus werden dort aufgeführt. Und diese werden dringend benötigt: Die Anzahl der übernachtenden Touristen ist im Vergleich vom Jahr 2013 zum Jahr 2014 von rund 54 Tausend auf knappe 50 Tausend um fast zehn Prozent gesunken. Maximilian Zwick, Pressesprecher der Stadt Pirmasens, sieht den Grund dafür aber in der Häufung der Großveranstaltungen, die in diesem Jahr in Pirmasens stattfanden. Insgesamt würden die Zahlen aber stark von der Auslastung der Messe abhängen, so Zwick. Am meisten gibt die Stadt für den Teilhaushalt “Soziales” aus. Dort steht ein Minus von rund 40 Millionen Euro zu buche. Dabei werden beispielsweise Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts oder die Eingliederungshilfe für Behinderte berechnet. Das sind alles Ausgaben, die eine Stadt natürlich machen muss. Durch die kommunale Selbstverwaltung, die im Grundgesetz der Bundesrepublik verankert ist, sind die Kommunen dazu sogar gesetzlich verpflichtet. Liegt die Ursache der Verschuldung also in den geringen Einnahmen der Stadt, die die Ausgaben der Teilhaushalte nicht decken können? Mit am wichtigsten sind dabei die Steuern. Diese bilden die höchste Summe aller Einnahmen.
Licht am Ende des Tunnels?
Innerhalb von zehn Jahren verlor die Stadt, in dem Zeitraum von 1995 bis 2005, rund 21 Prozent ihrer gesamten Steuereinnahmen. Daraus resultiert die Frage, ob sich Pirmasens von einem derart starken Rückgang der wichtigsten Einnahmequelle überhaupt erholen kann.
Denn: Ein Einbruch der Steuereinnahmen hängt meist mit einer starken Abnahme der Gewerbesteuer, die Unternehmen gewinnabhängig an die Stadt abführen müssen, zusammen. Diese stellt die wichtigste Einnahmequelle dar, da sie direkt in die Stadt fließt. Im Durchschnitt stammt fast die Hälfte aller Steuereinnahmen aus der Gewerbesteuer.
Da die Gewerbesteuer auf die Ertragskraft der ansässigen Unternehmen zurückzuführen ist besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Höhe der Gewerbesteuer und der Wirtschaftskraft Pirmasens. In Krisenzeiten kann es demnach zu einem erheblichen Einnahmeloch der Gewerbesteuer und somit zu den gesamten Steuereinnahmen kommen.
In der oberen Grafik weist Pirmasens im Jahr 2005 deutlich geringere Gewerbesteuereinnahmen auf als in den Jahren 1995 und 2015. Das niedrige Ergebnis könnte auf zwei Ursachen zurückzuführen sein:Zum einen auf den Untergang der Schuhindustrie. Einst beherbergte Pirmasens die größte Schuhfabrik Europas, Rheinberger. Viele weitere Fabriken prägten das Stadtbild bis in den Siebzigerjahren der Konkurrenzdruck durch importierte Massenware zunahm und viele ansässige Unternehmen ihre Produktionen daraufhin ins Ausland verlagerten. Die Folge waren nicht nur massenweise Entlassungen, sondern auch Schließungen vieler Werke. Eine weitere Ursache stellt möglicherweise der Abzug des amerikanischen Militärs dar. Seit 1945 waren in der Pirmasenser Kaserne auf der Husterhöhe amerikanische Streitkräfte stationiert. Mit dem Abzug von rund 10.000 Soldaten und deren Angehörigen im Jahr 1997 verlor die Stadt weitere Käufer und Arbeiter.
Infolgedessen gingen die Einnahmen aus der Gewerbesteuer und Einkommenssteuer zurück und die Sozialausgaben stiegen. Pirmasens wurde zum Opfer des Strukturwandels. Die Verluste der Zeit mussten abgefangen werden und die Einnahmen wieder steigen. Für einen Schuldenabbau braucht die Stadt zwangsläufig höhere Einnahmen. Auf die Höhe der Steuereinnahmen hat die Gemeinde durch die Festlegung sogenannter Hebesätze einen direkten Einfluss.
Um die Realsteuern und somit die gesamten Einnahmen zu erhöhen wurden die Hebesätze jährlich gesteigert. Höhere Hebesätze bedeuten höhere Einnahmen. Das ist für gut für die Stadt, jedoch schlecht für ansässige Unternehmen. Bei einem höheren Hebesatz wird die Stadt für Gewerbebetriebe, für Landwirte und für Gebäudeeigentümer auf Dauer weniger attraktiv im Vergleich zu anderen Gemeinden. Neue Unternehmen überdenken die Wahl des Standorts möglicherweise bei günstigeren Konditionen in Nachbarregionen.
Jedoch sind die Einnahmen zuletzt auch eben durch die Erhöhung der Hebesätze in den jüngsten Jahren wieder gestiegen. Neben den Hebesätzen führte ebenfalls die Umnutzung vieler alter Schuhfabriken zu einem Wachstum. An der Stelle der zuvor erwähnte Schuhfabrik Rheinberger steht seit 2008 beispielsweise das Dienstleistungs- und Wissenschaftszentrum Dynamikum. Das ehemalige Militärareal wird nun als Gewerbepark und Fachhochschule genutzt. So sind die Gewerbesteuereinnahmen pro Kopf im Zeitraum von 2005 bis 2015 wieder deutlich gestiegen. In den Jahren 2008, 2010, 2012 und 2014 weist die Stadt sogar überdurchschnittlich hohe Werte im Vergleich mit dem Bundesland Rheinland-Pfalz auf.
Die Stadt profitiert demnach von einer kontinuierlichen Erhöhung der Steuereinnahmen. Heilt die Zeit somit Pirmasens Wunden? Und könnte bei einer anhaltend positiven Entwicklung der Steuereinnahmen doch noch Land in Sicht sein?
Die Schulden bleiben
Ein Indiz, dass für das Schuldenmeer und gegen einen Rettungsring für Pirmasens spricht, ist das Defizit der freien Finanzspitze. Sie stellt dar, wie es um die finanzielle Lage der Stadt tatsächlich steht. “In Pirmasens gibt es seit Jahren eine strukturelle Unterdeckung, die auch durch eine relativ positive Entwicklung der Gewerbesteuereinnahmen in jüngster Zeit kaum auszugleichen sein wird”, so Politologe und Bildungsreferent Dr. Gerd Rudel. Ein finanzieller Spielraum für notwendige Investitionen existiert nicht. In der Grafik sind die freien Finanzspitzen der Jahre 1995, 2015 und 2015 aufgeführt.
Bei der freien Finanzspitze wird die Differenz der laufenden Einnahmen und Ausgaben berechnet. Diese dient zur Finanzierung von Investitionen. Der Wert sollte immer mindestens größer oder gleich Null sein. In Pirmasens liegt er seit Jahrzehnten im zweistelligen Millionenbereich. Im Minus. Waren es 1995 noch rund acht Millionen Euro Defizit, sind es 2015 rund 20 Millionen. Anstatt Mittel zum Investieren zu erwirtschaften, muss Geld geliehen werden, um die Defizite auszugleichen. Ein Kreislauf, der die Schulden immer höher werden lässt.
Die Daten
Die Daten des Projekts wurden vom Statistischen Bundesamt, Statistischen Landesamt Rheinland Pfalz, der Regionaldatenbank Deutschland, der Creditreform Wirtschaftsauskunft und der Stadt Pirmasens zur Verfügung gestellt. Im Zuge der Vergleichbarkeit haben wir uns auf die Daten der Jahre 2015, 2005 und 1995 bezogen.