„Unterm Strich haben wir einfach zu viel Arbeit zu leisten und zu viele Kinder, aber sind zu wenige Ärzte.“
Diagnose: Überlastung
Montagmorgen, 8 Uhr: Schnellen Schrittes läuft er in schwarzen Crocs durch den hellen Korridor. Dunkelblaues T-Shirt, lockere Stoffhose in hellgrau, ein Stethoskop baumelt um seinen Hals. Die Deckenleuchten strahlen hell, an den Wänden hängen farbenfrohe Tierbilder. Zu seiner Linken und Rechten finden sich nummerierte Türen. Dahinter wartet man bereits auf ihn. Er biegt in einen der Räume ab und schließt die Türe hinter sich. Zur Ruhe kommt er an diesem Montag nur wenig. Dafür ist in der Praxis zu viel los. Ralf Brügel arbeitet als Kinderarzt.
Damit ist er einer von knapp 800 hauptamtlich niedergelassenen Kinderärzt*innen in Baden-Württemberg. Letztes Jahr gab es der Bundesärztekammer zufolge insgesamt knapp 2300 Fachärzt*innen für Kinder- und Jugendmedizin in Baden-Württemberg – inklusive der Kinderkliniken und ambulanten Praxen. Seit 2006 betreibt Brügel nun schon seine Praxis in Schorndorf im Rems-Murr-Kreis, gemeinsam mit drei Ärztinnen. Doch in den letzten Jahren ist der Kinderärzt*innen-Mangel und die damit verbundene Überlastung der Praxen auch hier spürbar geworden.
8:25 Uhr – der kleine Lio* kommt mit Bauchschmerzen in die Praxis. Ralf Brügel setzt sich auf den runden Stuhl und lehnt gelassen gegen die Wand, seine Brille schiebt er in die dunkelgrauen Haare. Nachdem er sich in Ruhe die Beschwerden angehört hat, tastet er den Bauch ab und schaut sich die Ohren sowie den Mund des Patienten mit einem leuchtenden Otoskop genauer an. Der Mutter empfiehlt er, ein Bauchschmerzprotokoll zu führen. Außerdem erhält der Junge an diesem Morgen eine Auffrischungsimpfung gegen Tetanus, Diphtherie, Keuchhusten und Kinderlähmung. Hierzu setzt sich Brügel zu dem Jungen auf die Behandlungsliege, desinfiziert dessen Oberarm und piekst mit der Nadel hinein. Da das dem Kind zunächst weniger behagt, motiviert Brügel den Patienten mit Sprüchen wie „Du bist ein Held!“, stillzuhalten. Schnell noch ein buntes Pflaster auf den Arm geklebt und schon hat Lio* es geschafft. Zum Abschluss bekommt er wie jedes Kind in Ralf Brügels Praxis einen Keks als Belohnung für die Tapferkeit. Circa sieben Minuten dauert die Behandlung. Anschließend überträgt der Kinderarzt seine Diagnose in das Computersystem und hakt Lio* von der heutigen Liste ab. Weiter geht‘s.
Inzwischen ist es 9 Uhr. Zwar hat die Praxis erst seit einer Stunde geöffnet, Ralf Brügel untersucht dennoch schon den achten Patienten. Neben Insektenstichen wird über Schwindel, Halsschmerzen, Erbrechen und Fieber geklagt. Das Wartezimmer ist nicht überfüllt, da die Patient*innen direkt auf die acht Behandlungsräume der Gemeinschaftspraxis verteilt werden. „An einem Julitag könnte man denken, dass wir noch Platz haben, aber im Winter platzen wir aus allen Nähten. Wir arbeiten praktisch tutti completti durch, ohne dass da noch Platz wäre, weitere Patienten zu behandeln“, so der Kinderarzt. Dies sei auch den Grippewellen im Winter geschuldet. Während Brügel im Sommer pro Kind rund fünf bis zehn Minuten für die Behandlung Zeit hat, sind es im Winter kaum mehr als fünf Minuten.
Die Praxis ist voll: pro Quartal gibt es hier rund 4500 Patient*innen. In den umliegenden Praxen ist die Lage nicht anders. Deshalb kam es schon vor, dass Schwangere am Empfangstresen von Brügel weinten, da sie nirgendwo einen Praxisplatz fanden. Zwar gibt es hier bisher noch keinen Aufnahmestopp, die Terminnot ist trotzdem groß. Auch versucht Brügel inzwischen strenger zu sein: Kinder, die nicht aus der Umgebung von Schorndorf kommen, können nicht mehr aufgenommen werden. Das Problem nimmt den Kinderarzt mit und wirkt sich auf sein Stresslevel aus. Die Belastung an den Arbeitstagen ist hoch, deshalb ist ein freier Tag in der Woche für ihn notwendig. Der Kinderarzt meint: „Ich glaube schon, dass das Stresslevel etwas zu hoch ist. Ich glaube aber auch, dass ich über die Jahre gelernt habe, einigermaßen gut damit umzugehen und mich nicht stressen zu lassen.“
Für den Ärzt*innen-Mangel gibt es zahlreiche Gründe. Zum einen fehlen Studienabgänger und Studienplätze. Diese sind laut Till Reckert vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt*innen (BVKJ) nach der Wende auf das Niveau der alten BRD begrenzt worden. Zum anderen seien viele Regionen aufgrund formeller Überversorgung für die Neugründung von Praxen gesperrt – auch wenn Eltern dort keinen Praxisplatz fänden. So auch der Rems-Murr-Kreis. Der Landkreis gilt der Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigung zufolge als überversorgt und ist deshalb für die Niederlassung neuer Kinder- und Jugendärzt*innen gesperrt. Das bedeutet: Ärzt*innen können sich nur neu niederlassen, indem sie eine bereits bestehende Praxis übernehmen oder Jobsharing betreiben. Hierbei wird mit den Bedarfszahlen aus den 90er-Jahren gerechnet, obwohl die Tätigkeiten in den vergangenen Jahren zugenommen haben. „Unterm Strich haben wir einfach zu viel Arbeit zu leisten und zu viele Kinder, aber sind zu wenige Ärzte“, so Brügel.
Im nächsten Raum wartet der vierjährige Aaron*. Gemeinsam mit seiner Mutter ist er heute zur Vorsorgeuntersuchung U8 in der Praxis, dabei wird seine Entwicklung überprüft. Ralf Brügel testet die Motorik des Kindes, indem er ihm einen Ball zu wirft und Aaron* diesen fangen und zurückwerfen muss. Außerdem muss er auf einem Bein springen und auf einer roten Linie am Boden entlanglaufen. Brügel lässt ihn zudem Zahlen und Silben – von ihm auch als „Quatschwörter“ definiert – nachsprechen. „Pu-Ka“, „Ta-Wo-Re“ und „Ro-Ta-Ti-Ma“: mit diesen Silben überprüft er die Merkfähigkeit des Kindes. Anschließend untersucht er den Allgemeinzustand von Aaron*. Er tastet seinen Bauch ab, untersucht den Mund und die Ohren mit dem Otoskop und hört den Rücken sowie die Brust mit dem Stethoskop ab. Nach 15 Minuten ist der Arzt mit der Behandlung fertig. Jedoch macht sich die Mutter Gedanken zu dem Verhalten ihres Sohns, er wird sehr schnell emotional. Brügel nimmt sich deshalb zusätzlich Zeit für die Beratung und gibt Erziehungstipps.
Laut Brügel hat die Beratungsfunktion von Kinderärzt*innen in den vergangenen Jahren zugenommen, gerade wenn es um Erziehungsfragen geht. So kommen mehr Kinder mit psychosozialen Problemen, wie Schulschwierigkeiten, Konzentrationsproblemen und Verhaltensauffälligkeiten in die Praxen. Genau diese „sprechende Medizin“ werde Brügel zufolge jedoch nur wenig anerkannt und vergütet. Hinzu kommt, dass Eltern unsicherer im Umgang mit Krankheiten geworden seien und bereits wegen Kleinigkeiten in die Praxis kämen. Auch gibt es inzwischen komplexere Krankheitsbilder sowie mehr Impfungen – die Aufgaben der Ärzt*innen nehmen zu, das trägt zur Überlastung der Praxen bei.
Deshalb hat Ralf Brügel gemeinsam mit allen Kolleg*innen seines Landkreises einen Protesttag organisiert und seine Praxis am 27. Juni für einen Tag geschlossen. Auch eine Petition wurde gestartet. So wollen sie auf die bedrohte Gesundheitsversorgung aufmerksam machen. Die Mediziner*innen fordern in einem Brief mehr Unterstützung von der Politik und der Kassenärztlichen Vereinigung. „Die Sorge ist schon, dass die Grundversorgung der Kinder immer schlechter wird“, so Brügel. Dabei könnten zum Beispiel extra geschaffene Familienzentren als psychosoziale Beratungsstellen die Praxen entlasten. Auch mehr Studienplätze und weniger Bürokratie würden helfen. Brügel und seine Kolleg*innen geben die gesammelten Unterschriften zunächst an die Politik weiter und warten ab, ob ihre Aktion etwas verändert – für den Herbst könne er sich eventuell einen weiteren Protest vorstellen.
Zwischen 11:30 Uhr und 14:30 Uhr hat die Praxis von Ralf Brügel geschlossen. Zum einen macht der Kinderarzt Mittagspause, denn in den Stunden zuvor war nur eine kurze Trinkpause möglich. Zum anderen muss er sich im Büro trotz der Hilfe seiner Medizinischen Fachangestellten um organisatorische Aufgaben kümmern. E-Mails zu gesundheitlichen Problemen beantworten, Telefongespräche mit Eltern führen. Hinzu kommt der Schriftverkehr mit den Krankenkassen zu bestimmten Rezepten und Behandlungen. Als Praxisinhaber ist er zudem für das Personal sowie das Computersystem verantwortlich. Die bürokratischen Aufgaben kosten einiges an Zeit. Schon ist die Pause vorbei.
16 Uhr – in Zimmer drei sitzen die Brüder Malik* und Dennis* mit ihrer Mutter und Schwester. Da die Mutter wenig Deutsch spricht, muss die Schwester übersetzen. Sie vermuten, dass Malik* Fieber hat, sodass die geplante Impfung nicht stattfinden kann. Brügel misst deshalb die Temperatur des Zweijährigen: 40 Grad Fieber. Zuvor hatte der Junge noch fröhlich gelacht, jetzt ändert sich seine Laune schlagartig. Malik* schreit laut, weint stark und wehrt sich. Als Brügel seine Ohren anschauen möchte, steigert er sich noch mehr in den Weinkrampf rein. Ihn zu beruhigen, dauert lange. Als auch das geschafft ist, empfiehlt der Kinderarzt einen Fiebersaft. Nun ist der Bruder Dennis* dran – er hat einige Sprachschwierigkeiten. Brügel testet dies, indem er ihm ein Bilderbuch zeigt und Begriffe wie „Esel“ oder „Eis“ daraus abfragt. Dann empfiehlt er, einen Termin beim Logopäden auszumachen. Nach rund 15 Minuten ist die Behandlung geschafft.
Auch Sprachbarrieren bedeuten zusätzliche Arbeit für Kinderärzt*innen, da die Behandlungen länger dauern. Brügel zufolge dauere es sogar doppelt so lange, da häufig mit Übersetzungsdiensten gearbeitet werden müsse. Besonders die Geflüchteten-Situation habe diese Schwierigkeit in den letzten Jahren verstärkt. Trotz der zeitintensiven Mehrarbeit bleibt Brügel geduldig, schließlich sollen alle Patient*innen gut versorgt werden.
An diesem Arbeitstag hat Brügel 51 Kinder behandelt, insgesamt wurden heute 163 Patient*innen in der Praxis untersucht. Es ist inzwischen 17:30 Uhr – für den Kinderarzt geht der Tag in seiner Praxis zu Ende. Doch frei hat er an diesem Montag noch nicht. Rund fünf Mal im Jahr muss er einen abendlichen Notdienst für den Landkreis absolvieren. Deshalb geht es für Ralf Brügel nun weiter in die Kinder-Notfallambulanz in Winnenden, um 22 Uhr macht dann auch er Feierabend.
*Namen wurden aus jugendschutzrechtlichen Gründen von der Redakteurin geändert.