„Was ist eigentlich Lebensqualität? Was ist Wohnqualität? Sich diese Fragen immer wieder neu zu stellen, kann man von der Weißenhofsiedlung lernen.“
100 Jahre Weißenhof – Visionen von damals, Lösungen für morgen
Hundert Jahre sind eine lange Zeit. So alt wird die Weißenhofsiedlung, die bis heute als Aufbruch der Architekturmoderne gilt. Obwohl sich unser Bauen und Wohnen seitdem stark verändert hat, ist die Frage, die damals im Mittelpunkt stand, erstaunlich modern: Wie schaffen wir gesunden, bezahlbaren und funktionalen Wohnraum? Heute stehen wir mit Wohnraummangel, Klimakrise und steigenden Baukosten vor ähnlichen Herausforderungen. Auf den Spuren der Architekten der Weißenhofsiedlung zeigt sich, wie visionär ihre Konzepte damals waren – und wie relevant sie heute noch sind.
Wie entstand die Weißenhofsiedlung?
Die am Killesberg gelegene Siedlung entstand 1927 im Rahmen der Bauausstellung „Die Wohnung“. Organisiert wurde die Ausstellung vom Deutschen Werkbund, die Stadt Stuttgart finanzierte sie.
Unter der künstlerischen Leitung von Ludwig Mies van der Rohe wurden innerhalb von nur vier Monaten 33 Häuser von 17 Architekten gebaut. Unter den Architekten befinden sich internationale Größen wie Le Corbusier, Walter Gropius und Hans Scharoun.
Was macht die Weißenhofsiedlung so besonders?
Charakteristisch sind die Flachdächer, kubischen Formen und die minimalistische Gestaltung. Das Ziel ist es, ein Modell für gesundes, bezahlbares und zukunftsweisendes Wohnen zu entwerfen. Zum Einsatz kamen innovative Materialien und Bauweisen wie Leichtbeton und Trockenbau. Neu ist auch, dass jedes Haus zentral beheizt ist und über Bad und WC sowie eine Küche mit Gasanschluss verfügt. Eine halbe Million Besucher besichtigt die Ausstellung, als Meilenstein des Neuen Bauens erfährt sie weltweite Resonanz.
Nachhaltigkeit damals und heute
Die Baubranche ist heute für ungefähr 40 Prozent des globalen CO2-Ausstoßes verantwortlich – kein Wunder, dass kaum ein Thema beim modernen Bauen so prominent diskutiert wird wie das der Nachhaltigkeit. Anja Krämer, Leiterin des Weißenhofmuseums, stellt im Interview klar heraus, dass Klimawandel, Ressourceneffizienz oder Bauen im Bestand vor 100 Jahren natürlich kaum eine Rolle spielten. Trotzdem gaben die Weißenhof-Architekten grundlegende Impulse, die uns heute noch inspirieren können. „Was ist eigentlich Lebensqualität? Was ist Wohnqualität? Sich diese Fragen immer wieder neu zu stellen, kann man von der Weißenhofsiedlung lernen“, so Krämer.
Und auch konkrete Ansätze von damals können uns in Zeiten von Wohnraummangel und bei Fragen rund um ressourceneffizientes Bauen Antworten liefern. So etwa die Idee des modularen Wohnens. Im Doppelhaus von Le Corbusier findet man viele Elemente, die den Wohnraum transformabel gestalten. Der Grundgedanke des Architekten war es, keine Fläche zu verschwenden.
Für Le Corbusier galt: Entweder man schläft, oder man wohnt – beides gleichzeitig geht nicht. Warum also zwei getrennte Räume belegen, von denen einer immer überflüssig ist? Der Architekt verwirklichte das durch große Einbauschränke, aus denen nachts Betten herausgezogen werden und Schiebewände, die man in den Raum einziehen kann. Bei einer Führung durch das Doppelhaus werden diese Funktionen demonstriert: Tagsüber kann ein großes Wohnzimmer genutzt werden, das nachts in einzelne Schlafzimmer unterteilt wird. Auch der Architekt Adolf Rading entwirft für die Weißenhofsiedlung ein Haus, das durch Falt- und Schiebewände einen solchen freien Grundriss bekommt. Indem ein Raum mehrere Funktionen übernimmt, werden Flächen optimal ausgenutzt. Dieses Prinzip finden wir heute in Tiny Houses oder modularen Bausystemen wieder.
Krämer findet Nachhaltigkeit in der Weißenhofsiedlung auch in der hohen Bauqualität. Hochwertige Häuser erfüllen ihre Funktion über lange Zeit und werden weniger schnell abgerissen. Ein Abriss verursacht hohe CO2-Emissionen. Außerdem geht die sogenannte „graue Energie“ verloren, also die Energie, die bereits beim Bau aufgewendet wurde. Obwohl zehn der Häuser der Weißenhofsiedlung im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden, sind viele der Gebäude noch immer erhalten und werden bis heute bewohnt – ein Beweis für die hohe Bauqualität.
1927 meets 2027: Die IBA'27 in Stuttgart
Eine besondere Brücke zur Gegenwart schlägt die IBA’27: Genau 100 Jahre nach der Weißenhofsiedlung kehrt die Internationale Bauausstellung (IBA) in die Stadtregion Stuttgart zurück. Als Experimentierfelder rund um aktuelle Fragen des Bauens sind IBAs ein besonderes Instrument für die Stadtentwicklung. So auch in Stuttgart: Mit Fokus auf Nachhaltigkeit, soziale Verantwortung und innovative Technologien entsteht eine Bandbreite an Projekten. Geplant und umgesetzt werden einzelne Gebäude, wie das Wohnhaus mit Multifunktionsräumen in der Weimarstraße, bis hin zu ganzen Vierteln wie dem grünen Quartier am Stöckach. Dr. Raquel Jaureguízar ist Projektleiterin bei der IBA’27 und Mitglied im Deutschen Werkbund. Die Weißenhofsiedlung bezeichnet sie als ihr zweites Zuhause, seit über 10 Jahren führt sie selbst Touristengruppen durch die Siedlung.
Ein Rückbezug auf die Architekten der Weißenhofsiedlung ist für sie daher unumgänglich. „Auf dem Weg zur nachhaltigen Transformation unserer Städte können wir viel vom Weißenhof lernen: Die Offenheit, die Radikalität, die Freiheit und den Mut, unsere Lebens- und Wohnverhältnisse neu zu denken und zu gestalten, und diese mit der Natur und dem Klima in Einklang zu bringen“, so Jaureguízar. Die IBA’27 sieht sie damit – genau wie die Weißenhofsiedlung – als visionäres Projekt, das mit Mut und radikalen Ideen zeigt, wie zukunftsfähiges Bauen und Wohnen aussehen kann. Oder wie es Jaureguízar formuliert: „Die Auseinandersetzung mit der Ungewissheit ist unsere gegenwärtige Aufgabe und die Zukunft freut sich auf mutige Lösungsansätze".