„Wir haben hier jede Menge terrassierte Steillagen. Da ist alles auch heute noch 100 Prozent Handarbeit.“
Winzer in the City
Udo Leins wohnt in Stuttgarter Toplage. An der Mönchhalde steht er in seinem Garten und genießt den unverbauten Blick auf die Stadt. Wie er zu dieser exklusiven Aussicht kommt? Direkt hinter dem Haus des 77-Jährigen erstreckt sich ein langer Steilhang mit Weinreben. Vorsichtig steigt Leins die schmalen Stufen am Hang hinunter und macht sich an die Arbeit. Mit einer kleinen Gartenschere schneidet er Stück für Stück jede Rebe einzeln zurecht. Denn der Rentner profitiert nicht nur von der idyllischen Grünfläche, sondern packt auch regelmäßig als ehrenamtlicher Helfer im Weinberg mit an. Früher befand sich der Weinberg im Besitz seiner Familie. Nach dem Zweiten Weltkrieg verkauften sie ihn an die Stadt Stuttgart. Gemeinsam mit den Stadtwinzern will Udo Leins für den Erhalt seines Weinbergs sorgen.
Schaffe, schaffe, Wein anbaue!
Das bedeutet viel Arbeit: Ungefähr 300 Stunden verbringt Udo Leins übers Jahr im Weinberg und sogar im Winter gibt es jede Menge zu tun. Heute steht der Rebschnitt an. Der ist notwendig, damit der Wein im Frühjahr und Sommer gut wachsen kann. Aber was macht ein Winzer noch, bis wir den Wein zu Hause genießen können?
Oliver Kurz, Weinbautechniker und Önologe aus Heilbronn, erklärt, welche Arbeiten im Weinbau über das Jahr verteilt anfallen:
Maultaschen, Porsche − und jede Menge Wein
Die Terrassen an den Hängen um den Stuttgarter Kessel gehören so selbstverständlich zum Stadtbild wie der Fernsehturm. Auch historisch. Der Weinberg an der Mönchhalde wird seit dem 13. Jahrhundert bewirtschaftet und ist damit der älteste der Stadt. Mit 423 Hektar Anbaufläche gehört die baden-württembergische Landeshauptstadt außerdem zu den größten Weinbaugemeinden Deutschlands. Das städtische Weingut bewirtschaftet rund 17 Hektar davon. „Wir haben hier wunderschöne Weinberge“, sagt Frank Haller, der Kellermeister des Weinguts, stolz. „Mitten in der Stadt Wein anzubauen, das ist durch den direkten Kontrast zwischen Wein- und Stadtflächen schon etwas Besonderes. Das muss man als Winzer wollen und mögen.“
In Handarbeit hergestellt
Das Weingut ist ein Aushängeschild der Stadt. Doch auf ehrenamtliche Helfer wie Udo Leins sei man hier neben den zehn festen Mitarbeitern mittlerweile angewiesen, gibt Haller zu. „Rentabel zu wirtschaften ist schwierig“, erklärt er. Mitten in Stuttgart Wein anzubauen ist eine Herausforderung, weil die einzelnen Flächen klein sind und häufig an schwer zugänglichen Hängen liegen.
Das ist nicht nur aufwändig, sondern auch teuer: „Man kriegt für die Flasche Wein aus dem Steilhang eben nicht mehr Geld als für die aus einer Ebene, hat aber den vierfachen Arbeitsaufwand,“ sagt der Weinexperte. Außerdem müsse man sich dem Alltag in der Stadt anpassen und Rücksicht auf die Anwohner nehmen: „Wenn man morgens um sechs mit dem Traktor kommt, freuen sich die Leute nicht gerade.“ Die Weinberge sind quer über die Stadt verstreut, umgeben von Wohnhäusern, Industriegebieten und Autobahnen. Das klingt auch nicht nach Orten, an denen ein feiner Tropfen gedeihen kann. Der Stuttgarter Winzer ist dennoch überzeugt von seinem Wein. Außerdem sind die Stuttgarter nicht alleine. Auch in anderen Großstädten wie Wien und Heilbronn wird erfolgreich Wein angebaut.
Aber kommt das bei den Kunden an? Was denken die Stadtbewohner über den heimischen Wein? Wir haben am Weinregal eines Heilbronner Supermarktes nachgefragt:
Genuss mit Feinstaubaroma?
Die schlechte Luft aus der Großstadt gelangt zum Glück nicht in den Wein. „98 Prozent der Schadstoffe werden bei der alkoholischen Gärung ausgeschieden,“ sagt Rainer Dürr, der als Weinbaumeister für die Stadt arbeitet. „Ganz im Gegenteil sogar,“ erklärt er. Denn jede grüne Pflanze hilft im Kampf gegen den Treibhauseffekt und die Klimaerwärmung. „Die Weinbauflächen tun der Luft in der Innenstadt gut“, sagt Dürr. „Außerdem kommen die Leute schnell ins Grüne.“ Ein Spaziergang in den Weinbergen sei Naherholung pur für die Stadtbewohner. Und wo wir schon bei der Klimaerwärmung sind: In der Stadt ist es durchschnittlich ein bis zwei Grad wärmer als außerhalb. Deshalb können in Stuttgart Sorten reifen, die sonst nur in viel südlicheren Gegenden angebaut werden.
Warum sich der Mehraufwand in der Stadt noch lohnt? „Wir sind nah an den Verbrauchern. Das ist sehr wichtig für uns“, sagt Dürr. Denn auf die Nähe zu den Kunden legt das Weingut großen Wert, sowohl bei der Arbeit draußen im Weinberg, bei Weinproben und Führungen durch den Weinkeller und nicht zuletzt auch im Verkauf. Aktuell hat das städtische Weingut neben dem bestehenden Verkaufsraum in Bad Canstatt noch einen weiteren im FLUXUS in der Calwer Passage angemietet.
Urbane Vielfalt
Um guten Wein zu trinken, müssen wir also nicht in die Ferne schauen, sondern nur ins heimische Weinsortiment. Natürlich gebe es auch gute Weine aus anderen Gegenden und aus dem Ausland, sagt Dürr. „Aber wenn ich hier in Canstatt lebe, dann trinke ich auch Wein direkt von hier. Das mache ich auch mit anderen Lebensmitteln so.“ Regionaler Handel mit kurzen Wegen für Händler und Verbraucher – damit möchte man nicht nur Weinkenner überzeugen. „Ich trinke am liebsten Riesling, Lemberger und Trollinger“, erzählt der Winzer. Doch auch zahlreiche andere Sorten werden angebaut, sodass für alle Geschmäcker und jeden Geldbeutel etwas dabei ist. Das breite Angebot soll auch junges Publikum für den Genuss von feinem Wein begeistern. Denn der ist ein fester Bestandteil unserer Kultur.
Hochwertiger Genuss, idyllische Landschaften mitten in der Großstadt und passionierte Winzer prägen den urbanen Weinbau. Trotz vieler Herausforderungen geht das Konzept auch jenseits der deutschen Grenzen auf. Ein weiteres Vorzeigebeispiel für den City-Wein ist die österreichische Hauptstadt Wien. „Wir bauen Wein in einer Millionenstadt an“, erzählt Winzer Fritz Wieninger begeistert. Auch er ist überzeugt von den Stärken des Stadtweins: „Das Terroir ist bei Wein das Wesentliche und wir haben in der Stadt Wien tolle Bedingungen.“ Gemeinsam mit anderen Kollegen kämpft er für seine Leidenschaft. „Unser Markt ist in unmittelbarer Nähe. Das ist ein großer Vorteil,“ sagt er. In Wien haben sich einige Winzer zur Vereinigung „WienWein“ zusammengeschlossen. „Wir wollen mit diesem Verein aktiv werden und den Menschen da draußen zeigen, dass wir großartige Weine und Weingüter haben, die es wert sind, beachtet zu werden.“
Winzer fühlen sich in Städten wohl, das beweist die Verbreitung des städtischen Weinbaus. Stuttgart, Heilbronn und Wien haben zwar besonders viel Fläche, doch auch an anderen Orten sind die Weinbauern im Großstadtdschungel keine Seltenheit.
Das Leben ist zu kurz, um schlechten Wein zu trinken
In jeder Flasche Stadtwein steckt viel Handarbeit, jede Menge Begeisterung und ein Hauch Idealismus. Dafür kosten die Stadtweine mindestens das Dreifache der durchschnittlichen 2,38 €. In Vino Veritas? Das muss jeder für sich entscheiden, denn Wein ist letztlich im wahrsten Sinne des Wortes Geschmackssache!