Mit 17,97m zu Olympia
Göttingen, 2. Juli, 11.45 Uhr
„Und Favoritin Nina Ndubuisi!“ Enthusiastisch wird das Nachwuchstalent vom Moderator des Livestreams angekündigt. Er lobt Nina in den höchsten Tönen, schwärmt von ihren Rekorden und stellt fest, dass sie zu denjenigen gehört, unter denen später die Medaillen ausgemacht werden. Dass Nina bei den U23 Deutschen Meisterschaften in Göttingen teilnimmt, ist ungewöhnlich. Mit gerade mal 19 Jahren ist sie drei Jahre jünger als ihre ältesten und körperlich stärkeren Konkurrentinnen. Sie stehen alle ordentlich in einer Reihe. Nina mittendrin. Sie trägt eine rote Trainingsjacke – die Farbe ihres Heimatvereins SG Schorndorf. In schwarzen Ziffern prangt die 603 als Startnummer auf ihrem Rücken.
Nina, die deutsche Meisterin 2021. Nina, die bei der diesjährigen Leichtathletik Europameisterschaft in Jerusalem Gold holte. Nina, die ganz normale Teenagerin.
„Früher, als ich vor dem Fernseher saß, Olympia geguckt und dann gesehen habe, wie krasse Maschinen richtig weit stoßen oder springen, habe ich gesagt, dass ich sowas auch gern machen will“, erzählt sie. Angefangen hat alles bei den Bundesjugendspielen, als ihre Lehrerin ihr riet, zum Leichtathletiktraining bei der SG Schorndorf zu gehen. Ursprünglich kommt Nina aus dem Siebenkampf, der an zwei Tagen alle Disziplinen abdeckt, die man von den Bundesjugendspielen so kennt. Als ihre Trainer ihr Kugelstoß-Talent erkannten, legten sie den Trainingsschwerpunkt auf die Wurfdisziplin. Von sieben vielfältigen Disziplinen auf eine zu reduzieren, hat sie anfangs wenig begeistert. „Aber mittlerweile habe ich mich voll in die Disziplin verliebt. Es macht richtig Spaß, wenn man dann Erfolge feiern kann, das ist noch mal ein Plus“, resümiert sie heute.
Erste Erfolge erlebt die Abiturientin in ihrer Karriere schon früh. Ein Knackpunkt war die Europameisterschaft in Tallinn in Estland 2020, als Nina die Bronze-Medaille gewann. „Zu sehen, dass keiner mir den Platz mehr wegnehmen konnte, war ein richtig gutes Gefühl. Ich würde sagen atemberaubend“, sagt Nina strahlend. Ihr Gesichtsausdruck ist stolz, sie sieht zufrieden aus, als hätte sie nur gute Erinnerungen an diese Zeit.
Von Niederlagen...
Auf dem Sportplatz winkt Nina bescheiden in Richtung Zuschauertribüne, hält den Kopf gesenkt. Fast, als wäre ihr die Aufmerksamkeit ein bisschen unangenehm. Ein paar Minuten nach der Ankündigung geht es los, eine nach der anderen tritt in den Ring und stößt die vier Kilogramm schwere Kugel so weit sie kann. Die Bewegungen der Sportlerinnen sind flüssig, wirken beinahe mühelos. Für Nina aber beginnt der Wettkampf holprig mit zwei ungültigen Stößen. Sie lässt sich die beiden Fehlversuche nicht anmerken. Später wird ihr Trainer Artur Hoppe erklären, dass sie falsch im Ring stand, ein bisschen zu schräg. Es scheitert an kleinen Details. Mit erhobenem Kopf geht Nina gefasst vom Feld. Sie bespricht sich mit ihrem Trainer, hört genau zu, während er sich über die Ränge beugt und Anweisungen gibt.
Tiefpunkte sind ganz normal, das weiß jede*r Sportler*in. Markus Reichle kommt selbst aus dem Leistungssport und ist heute stellvertretender Geschäftsführer beim Württembergischen Leichtathletik Verband. Als ehemaliger Kugelstoßer weiß er, was Leistungssport in puncto Persönlichkeitsentwicklung bewirken kann. Es gehöre dazu, zu lernen, wie man mit Niederlagen umgeht. Man denkt immer, im Leistungssport habe man nur Erfolge. Das ist aber nicht so. „Meistens lernt man aber aus den Phasen, die nicht so einfach waren, noch ein bisschen mehr“, so Reichle.
Dritter Versuch. Nina geht wieder in Position. 15,90 Meter. Es ist ihr erster gültiger Versuch. Aber für jemanden, der schon weit über 17 Meter gestoßen hat, ist das noch nicht pokalreif. Nina läuft wieder zu ihrem Trainer an die Seite. Dieses Mal mit etwas hängenden Schultern. Dieses Mal sieht man ihr die Anspannung an.
Ein paar Tage später erzählt Nina, wie sie sich nach den ungültigen Versuchen gefühlt hat: „Oh Gott, ich habe gedacht: Wenn das wieder passiert, hast du ja gar nichts gelernt aus dem letzten Jahr. Ich habe versucht mich zusammenzureißen, ich hatte fast einen Nervenzusammenbruch.“ Sie sagt das lachend, klingt verzweifelt und erleichtert zugleich. Das Szenario erinnert sie an ihre Teilnahme an der WM in Cali 2022. In Kolumbien hatte sie ebenfalls mit Fehlversuchen zu kämpfen. Deshalb weiß sie mittlerweile, wie man mit Niederlagen umgeht. Rückblickend würde sie ihr ganzes letztes Jahr als Rückschlag bezeichnen. Die Wintersaison habe gut für sie angefangen, doch im Sommer konnte sie nicht mehr anknüpfen: „Ich habe mich gefragt: Wow, kann ich das überhaupt noch?“ Nach Kolumbien hat die Spitzensportlerin eine Pause gebraucht, um sich auf andere Dinge zu konzentrieren: Sie war im Urlaub, hat Freund*innen getroffen, einen Cut gesetzt, um sich nicht noch mehr runterziehen zu lassen. Nina, die ganz normale Teenagerin.
... und von Erfolgsgeschichten
Zwei Würfe später. Nina nimmt zum letzten Mal ihre Startposition ein. Sie wendet die Drehstoßtechnik an. Dafür stellt sie sich in den „Ring“, ein heller Kreis auf dem Platz mit ca. zwei Metern Durchmesser. Konzentriert geht sie in Position, streckt den linken Arm aus, wie man es von der Wurfdisziplin bei den Bundesjugendspielen kennt. Der andere Arm ist wie ein Dreieck abgeknickt, hält die Kugel nah an die rechte Seite des Halses. Nina geht leicht in die Knie, holt Schwung. Sieht aus wie eine Position im Ballett. Sie drückt sich mit dem rechten Fuß ab, dreht auf dem linken, springt um. Alles blitzschnell. Jeder Muskel ist angespannt. Nina stößt die Kugel weg. Sie stemmt die Hände in die Hüften und wartet auf das Endergebnis. 17,55 Meter. Nina holt sich die Gold-Medaille. Und das in einem Wettkampf, in dem jede älter ist als sie. Stärker als sie. Im Hintergrund hört man das entfernte Klatschen des Publikums. Menschen wuseln auf dem Feld herum, zücken Maßbänder, jemand hält eine weiße Fahne hoch. Nina macht Luftsprünge, schlägt sich die Hände vor dem Mund. Ihre Freudenschreie sind sogar im Livestream klar zu hören.
Bad Cannstatt, 4. Juli, 13.00 Uhr
Zwei Tage später steht Nina eine Stunde vor Trainingsbeginn in der Molly-Schaufele-Halle. Von den Wänden hallen die Stimmen der Sportler*innen, die Anweisungen der Trainer*innen. Der Geruch im Landesstützpunkt Leichtathletik erinnert an Schulturnhalle, ein bisschen verstaubt.
Nina erinnert sich an ihr erstes Profitraining in Bad Cannstatt. Damals war sie sehr schüchtern, „weil hier so viele krasse Leute waren, ich war erst 14 oder 15 Jahre alt“, erzählt sie. Mittlerweile hat sie sich gut eingelebt und ist eins der über 800.000 Mitglieder des Deutschen Leichtathletik-Verbands. Davon sind 19 Prozent 15 bis 27 Jahre alt. Ihre Anfangszeit bei der SG Schorndorf verbindet Nina mit schönen Erinnerungen an ihre Trainingsgruppe, Insiderwitze, kürzere Trainingseinheiten: „Ich habe dort Freunde fürs Leben gefunden.“ Trotzdem trainiere sie lieber hier, in Bad Cannstatt, „da mache ich mehr Fortschritte.“ Sie mache das Ganze nicht nur für den Moment, sondern für etwas Größeres: „Selbst wenn ich manchmal keine Lust habe, komme ich trotzdem zum Training.“ 2028 findet in Los Angeles die Olympia statt, Ninas Traumziel.
Auch interessant
Die Disziplin im Wandel
Nach und nach trudelt der Rest der Trainingsgruppe ein. Sie sitzen auf Turnbänken aus Holz, um sie herum bunte Taschen, Turnschuhe und Trinkflaschen. Die Gruppe besteht aus drei Jungen und drei Mädchen, zwischen 19 und 25 Jahren alt. Alle sind etwas kräftiger. Nur Nina sticht mit ihrer schlanken Figur heraus. Ein Kugelstoßer mit einem Rücken, der doppelt so breit ist wie Ninas, stößt unermüdlich Kugeln in Richtung Hallenwand. Auf seinem T-Shirt hat sich hinten ein Schweißwasserfall gebildet. Er gibt Laute von sich, die verraten, wie anstrengend das sein muss.
1,90 Meter groß und 100 Kilogramm schwer, „in diesen Prototyp Kugelstoßerin von vor 25 Jahren passt sie gar nicht rein“, so Reichle. Früher war die Angleittechnik unter Kugelstoßer*innen verbreitet, bei der die Kugel mehr oder weniger aus dem Stand gestoßen wird. Durch den Wechsel zur Drehstoßtechnik ist es jetzt auch „für ganz andere Athleten-Typen möglich, Kugelzustoßen.“ Jemand wie Nina mit einer Körpergröße von 1,80 Meter und einem Gewicht von 72 Kilogramm zeigt, dass auch andere Körpertypen eine Chance haben.
Nina selbst erzählt: „Manchmal bekomme ich Kommentare wie: Wie kann man mit deiner Figur Kugelstoßen? Aber ich sehe das als Kompliment, so kann ich zeigen, dass ich nicht so bin wie alle anderen.“ Trotzdem sind die meisten Kugelstoßer*innen auch heute noch kräftig. Trainer Artur erklärt: „Masse treibt Masse an.“ Ninas Vorteil ist daher ihre Schnelligkeit. Trotzdem gäbe es Stoßer*innen, die nicht nur kräftig, sondern auch schnell seien, stellt sie klar.
Warum Kugelstoßen unterschätzt wird
Trainer Artur Hoppe betritt die Halle, ganz in schwarzen Trainingsklamotten gekleidet, den blonden Haarschopf kurz rasiert. Mit seiner kugelstoßtypischen Figur sieht er noch durchtrainierter aus, als alle anderen in der Halle. Nina bindet sich das Haar zu einem Zopf und wechselt von den Laufschuhen in sogenannte „Drehschuhe“.
In der Halle wird überwiegend Wandstoßen trainiert, das helfe, sich auf die Technik, nicht die Weite zu konzentrieren, erklärt Artur. Manchmal lässt er Nina erst mit einer schwereren Kugel stoßen, damit ihr das eigene Wettkampfgewicht leichter vorkommt. Das funktioniere aber komischerweise nur bei Frauen. Erklären kann Artur das nicht.
vier Kilogramm sind schwerer, als sie aussehen. Es ist, als würde Nina vier Flaschen Wasser über 17 Meter weit stoßen. Oder zwei Mac Books. Man braucht zwei Hände um die Kugel von der rostigen, grünen Metallhalterung zu nehmen. „Kugelstoßen wird hier in Deutschland total unterschätzt“, meint Trainer Artur. Er erinnert sich an einen Zuschauerwettbewerb in Neustädt, der nach einem Wettkampf auf einem Stadtfest stattfand. Die Leute seien neugierig gewesen, hätten Kugelstoßen nicht so wirklich auf dem Schirm gehabt. Dass erwachsene, gestandene Männer „nur“ mit Frauengewichten stoßen konnten, beweist, dass das alles gar nicht so leicht ist, wie es aussieht. 10,10 Meter, ist die weiteste Distanz, die ein Zuschauer an diesem Tag stößt. Zum Vergleich: Den Weltrekord der Frauen stellte Natalya Lisovskaya 1987 mit 22,63 Metern auf. Mehr, als doppelt so weit.
Nina stellt sich in den Ring. Wie beim Wettkampf in Göttingen nimmt sie die Anfangsposition der Drehstoßtechnik ein. Arm ausstrecken, Knie beugen, drehen, umspringen. Eine Sache von drei Sekunden. Nina dreht sich und stößt die Kugel weg. Sie knallt gegen die Wand aus Netzen, prallt ab und fällt auf den Boden. Nina läuft zur Wand und hebt die Kugel auf. Stößt sich Zentimeter für Zentimeter vor. Vielleicht irgendwann bis zu ihrem Traumziel Los Angeles.